Zum Film
1915: Der armenische Schmied Nazaret Manoogian (Tahar Rahim) lebt mit seiner Frau Rakel (Hindi Zahra) und den Zwillingstöchtern Arsinée und Lucinée (Zein und Dina Fakhoury) in Mardin, im nordöstlichen Mesopotamien. Der politische Wind dreht sich während des Ersten Weltkriegs, aus Minderheiten werden im Osmanischen Reich plötzlich Feinde. Eines Nachts wird die Familie von türkischen Gendarmen geweckt. Sie nehmen Nazaret, seinen Bruder Hrant (Akin Gazi) und Schwager Vahan (George Georgiou) mit, seine Frau Rakel und die Zwillinge bleiben zurück.
Unter dem Vorwand, ihren Militärdienst zu absolvieren, werden die Männer für den Straßenbau eingesetzt. Wer sich widersetzt, wird erschossen. Die Gendarmen schikanieren ihre Gefangenen und halten sie zu harter Arbeit an. Wer zum Islam konvertiert, wird begnadigt. Nur wenige nehmen das Angebot an. An den Gefangenen vorbei ziehen weitere Trecks mit armenischen Alten, Kindern und Frauen. Eines Morgens sind die Gendarmen verschwunden, doch bevor Nazaret und sein Bruder Hrant fliehen können, werden sie und ihre Mitgefangenen erneut von einem Trupp Söldnern und ehemaligen Sträflingen festgenommen. Aneinander gefesselt werden sie in eine Schlucht getrieben.
Um Munition zu sparen, erfolgt der Befehl, sie mit Säbeln und Messern umzubringen. Nazaret wird schwer am Hals verletzt, aber überlebt. Sein Bruder Hrant wird vor seinen Augen ermordet. Der ehemalige Dieb Mehmet (Bartu Küçükçağlayan) kommt in der Nacht zurück an den Tatort und hilft dem schwer verletzten Nazaret. Er verbindet die Wunde und stellt fest, dass Nazaret seine Stimme verloren hat.
Ohne Ziel ziehen sie, Nazaret mehr tot als lebendig, durch die Steinwüste, bis sie auf eine Gruppe Deserteure treffen und sich ihnen anschließen. Als sie zusammen einen der aus Mardin geflohenen ehemaligen armenischen Kunden von Nazaret, Baron Boghos (Sévan Stephan), ausrauben, erfährt Nazaret, dass alle Frauen und Kinder von dort geflohen sind. Nazaret trennt sich von der Gruppe, um seine Familie zu suchen. (...)
Produktionsnotizen
Nach Gegen die Wand (2004) und Auf der anderen Seite (2007) dauerte es sieben Jahre, bis The Cut, der letzte Teil von Fatih Akins Trilogie über "Liebe, Tod und Teufel", fertig gestellt werden konnte. The Cut ist Akins bisher anspruchsvollste Produktion, sowohl finanziell betrachtet als auch in der Umsetzung. Starke Partner waren wichtig – im kreativen Bereich und in der Produktion. Mit der französischen Produktionsfirma Pyramide Films arbeitet Akin seit Auf der anderen Seite zusammen. Die Produzentin Fabienne Vonier, eine Kämpferin und große Visionärin, zeigte sich von Anfang an begeistert von Akins neuem Projekt. Auf deutscher Seite konnte Fatih Akin Karl Baumgartner von Pandora Film von seiner Filmidee überzeugen.
Er hat dafür gesorgt, dass The Cut mit einem Budget von 16 Millionen Euro fast ausschließlich als Independent-Film finanziert werden konnte. Baumgartner war eine Vaterfigur. Ein Träumer, aber ein Träumer der Sorte, der die Träume Realität werden ließ. Schwierigkeiten steigerten nur seine Begeisterung und seinen Ehrgeiz. Als Akin die Dreharbeiten in Kanada für einen ganzen Tag ruhen ließ, weil ihm der Himmel an diesem Tag nicht gefiel, hätte jeder Produzent angesichts der zusätzlichen Kosten protestiert. Nicht so Karl Baumgartner, der sehr gut verstand, worum es Akin ging. Über Nacht klarte das Wetter auf, und am nächsten Morgen zeigten sich Himmel, Wolkenformation und Licht genau so, wie Akin es erhofft und sich gewünscht hatte. Die damals gedrehte Szene ist nunmehr die Schlusssequenz von The Cut. Weder Fabienne Vonier noch Karl Baumgartner haben die Fertigstellung des Films miterleben können. Fabienne Vonier starb im Juli 2013, Karl Baumgartner im März 2014. Ohne sie beide gäbe es diesen Film nicht.
Für Fatih Akin ist der "Teufel" allgegenwärtig. Er hat viele Facetten, steckt in jedem von uns, bereit, jederzeit auszubrechen. Für den dritten Teil seiner Trilogie schrieb Akin parallel an verschiedenen Drehbüchern. Die Entstehungsgeschichte von The Cut dauerte mehrere Jahre und durchlief viele Wandlungen. Zu Anfang setzte sich die Handlung aus zwölf Erzählsträngen zusammen. Als Akin dem Regisseur Costa-Gavras einen ersten Drehbuchentwurf zeigte, riet dieser ihm, nur einen der Handlungsstränge zu wählen, um daraus einen Film zu machen. Also konzentrierte sich Akin auf eine Geschichte über Vertreibung und Völkermord in Südost-Anatolien zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Sie erzählt von dem armenischen Kupferschmied Nazaret Manoogian und seiner Familie, die im Jahr 1915 Opfer von Verfolgung werden. Es geht um das Einzelschicksal eines Mannes, der von seiner Familie getrennt wird, den Genozid überlebt und sich auf die Suche nach seinen Töchtern macht, als er erfährt, dass sie noch am Leben sind.
Nachdem das Drehbuch fast fertig war, hatte Fatih Akin die große Chance, über Martin Scorsese einen anderen großen Drehbuchautor kennenzulernen: Mardik Martin. Auch Martin, der für Scorsese die Drehbücher zu Wie ein wilder Stier und Hexenkessel geschrieben hat, riet Fatih Akin, die Geschichte noch mehr zu verdichten. In guter US-Manier sagte er: "Ihr habt einfach zu viel Fleisch auf den Grill gepackt." Fatih Akin reiste nach Los Angeles und innerhalb von zehn Tagen verschlankten die beiden nicht nur das Drehbuch, sondern auch das Budget.
Akin ist ein Perfektionist, wenn es um historische Genauigkeit geht. So entstand das Drehbuch zu The Cut nicht in der stillen Kammer. Auf zahlreichen Reisen näherten sich Akin und sein Team, Kathrin Pollow (Historische Beratung), Nurhan Şekerci-Porst (Produzentin) und Faminio Zadra (Produzent) dem historisch komplexen Thema. Viele Ergebnisse und Erfahrungen dieser Reisen sind in die Geschichte mit eingeflossen. Wolfgang Gust, ehemaliger "Spiegel"-Redakteur und Autor zahlreicher Publikationen über das Osmanische Reich, den armenischen Völkermord und der deutschen Mitverantwortung, sowie Taner Akçam, Professor für Geschichte an der University of Minnesota und Genozid-Experte, halfen dem Team bei vielen Fragen.
Die fundierte historische Aufklärung des armenischen Völkermordes hat erst vor wenigen Jahren begonnen. Kathrin Pollow folgte z.B. den Spuren armenischer Kinder, die ab 1915 in Waisenhäuser bis nach Syrien, in den Irak und den Libanon kamen. Sie recherchierte die ausländische, auch deutsche, Beteiligung an der Planung und dem Bau der sogenannten Bagdadbahn, die so wichtig für die Expansion und den Erhalt des Osmanischen Reichs war. In Archiven fand sie Aufzeichnungen u.a. von deutschen, dänischen oder schweizer Geistlichen und Gesandten vor Ort, die frühzeitig und sehr detailliert über die Gewaltverbrechen an den Armeniern berichteten. Man folgte den Routen der armenischen Flüchtlingsströme und fand z.B. heraus, dass Kuba ein erster Anlaufpunkt war, um von dort in die USA überzusiedeln.
Aber auch kleinste Details mussten recherchiert werden: Wie sahen die Tätowierungen der Beduinen-Frauen vor 100 Jahren aus, trugen die kurdischen Reiter, die unter der türkischen Armee dienten, Knöpfe an ihren Hosen oder nicht, wie wurde Seife um die Jahrhundertwende in Aleppo hergestellt, wie sah sie aus ...?
Bei einer ihrer letzten Recherchereisen in Jordanien, kurz vor Drehstart stürzte Rainer Klausmann, Akins Kameramann seit Gegen die Wand, unglücklich und brach sich die Hüfte. Die Prognose der Ärzte lautete, frühestens in sechs Wochen wäre Klausmann wieder halbwegs hergestellt. An den ersten Drehtagen auf Kuba arbeitete Klausmann noch von einem Rollstuhl aus. Am Ende des Drehblocks auf der Insel hat er schon wieder getanzt.
Für einige Kreative in Akins Produktionsteam war The Cut wie ein Familientreffen, denn sie hatten schon für Steven Spielbergs Schindlers Liste und/oder Roman Polanskis Der Pianist zusammengearbeitet: Oscar-Preisträger Allan Starski als Produktionsdesigner, Ralph Remstedt als 1st AD, Waldemar Pokromski als Maskenbildner und Julie Adams als Dialogcoach. Als Kostümbildnerin konnte Fatih Akin erneut die Hamburgerin Katrin Aschendorf gewinnen, die zuvor schon die Kostüme für seine Filme Gegen die Wand, Auf der anderen Seite und Soul Kitchen entworfen hatte. Doch The Cut war eine besondere Herausforderung, denn der Film spielt auf drei Kontinenten, porträtiert drei Kulturen und spielt in einer Ära, die so selten in Filmen thematisiert wird, dass es kaum Kostümfundi gibt. Aschendorf reiste nach Spanien, Italien, England und Kanada, um geeignete Kostüme zu finden. Der kanadisch-armenische Regisseur Atom Egoyan stellte schließlich einige Kostüme zur Verfügung, die er für seinen Film Ararat verwendet hatte.
Er hat dem Team auch seine Frau "geliehen". Arsinée Khanjian spielt in einer Nebenrolle die Ehefrau des kubanischen Barbiers Hagob Nakashian. Die engagierte Armenierin kommt ursprünglich aus Beirut. Dass sie hier für einen Filmemacher mit türkischen Wurzeln vor der Kamera steht, hat einen besonders versöhnlichen Charakter.
Die Entscheidung, welcher Schauspieler die Hauptrolle übernehmen soll, fiel sehr früh. Bekannt dafür, sich nicht auf die "big names" der Branche zu verlassen, sondern die Qualität und das Potential eher weniger bekannter Schauspieler zu erkennen, sah Fatih Akin mit großer Begeisterung Jacques Audiards Film Ein Prophet. Der französische Schauspieler Tahar Rahim überzeugt darin in der Rolle eines jungen Analphabeten. Als zentrale Figur des Films trägt er diesen fast allein, ähnlich wie es in The Cut der Fall ist.
Während des Castings geschah so etwas wie in kleines Wunder. Mardik Martin war extra aus Los Angeles nach Hamburg gekommen, um dem Casting beizuwohnen. Für die Rolle des armenischen Baron Boghos hatte sich Fatih Akin für den britischen Schauspieler Sévan Stephan entschieden, der wiederum armenische Wurzeln hat. Abseits des Castings kamen Sévan Stephan und Mardik Martin ins Gespräch und stellten fest, dass sie miteinander verwandt sind. Sévans Mutter ist Mardik Martins Cousine. Sévan rief sofort seine Mutter an, und nach mehr als einem halben Jahrhundert sprachen sie und Mardik das erste Mal wieder miteinander. Da die Familie über die Welt verstreut lebt, brauchte es den Umweg über Hamburg, um sich wiederzufinden.
Die Dreharbeiten fanden von März bis Juli 2013 statt. Gedreht wurde auf Kuba, in Kanada, Jordanien, Deutschland und auf Malta. Der Drehstart auf Kuba verlief sehr gut. Das Team fand gute Arbeitsbedingungen vor, die Behörden machten keine Probleme. Einzig Holz, Papier und Drucker mussten mitgebracht werden. Auf Kuba gibt es nicht mehr viel Holz, und für einige Kulissen war Produktionsdesigner Allan Starski in Sorge, das vorhandene Material könnte vielleicht nicht ausreichen. Einige Szenen, die eigentlich im Mittleren Osten spielen, wurden ebenfalls auf Kuba gedreht.
So reibungslos sollten die Dreharbeiten dann aber nicht weitergehen. Eigentlich hatte man in Marokko drehen wollen, aber die Drehorte dort lagen zu weit auseinander. Man fand alles, was man brauchte, in Jordanien. Die dortige Wüste war optimal und selbst ein funktionierender historischer Zug stand zur Verfügung. Zudem erwies sich die jordanische Crew als sehr professionell. Dagegen stellte sich das Miteinander unter den Komparsen als schwieriger heraus, als man zuvor vermutet hätte. Unter den Komparsen waren Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Iran. Während der Dreharbeiten in der Wüste mussten sie sich große Zelte für Kostüm und Maske, Catering und Aufenthaltsort teilen. Immer wieder kam es zu Auseinandersetzungen und Handgemengen zwischen den verschiedenen Gruppierungen.
Es war eine frustrierende Erfahrung zu sehen, dass eine fiktive Geschichte, die sich an Begebenheiten von vor 100 Jahren anlehnt, vor Ort in Jordanien von der Realität eingeholt bzw. wiederholt wurde. Einmal unterbrach ein Beduine für einige Stunden die Dreharbeiten, die auf seinem Land stattfanden. Sein Bruder hatte dem Team den Dreh dort genehmigt, aber die Brüder waren zerstritten. Die Beduinen blockierten die Straßen, und die Polizei musste die Angelegenheit klären. Auch das Wetter schlug Kapriolen. Ein Wüstensturm unterbrach die Dreharbeiten. Bei 40°C überhitzte die Kamera und musste gekühlt werden. Das Gegenteil erlebte die Crew in Kanada. Dort fand sich das Team in einem Schneesturm wieder. Die durchschnittliche Tagestemperatur lag bei –10°C.
Auch Kurioses begegnete dem Team. So wurde auf Malta jene Szene gedreht, in der nach Ende des Ersten Weltkrieges die Türken aus Aleppo abziehen und von einem aufgebrachten Mob mit Steinen beworfen werden. Die "Steine" wurden aus Plastik angefertigt, sprangen dann aber wie Tennisbälle von den Menschen, Wänden und Straßen zurück. In minutiöser Detailarbeit mussten die Bilder in der Postproduktion retuschiert werden, um keine unfreiwilligen Lacher zu provozieren.
So wie Nazaret Manoogian im Film eine Odyssee durchlebt, waren die Dreharbeiten in der Realität für das Team eine lange Reise mit vielen Stationen. Das Todescamp wurde in den Filmstudios von Babelsberg gedreht. Die Szenen auf dem Auswandererschiff "Santa Isabel" wurden in Hamburg an Bord der "Rickmer Rickmers" gedreht. Auch Szenen in der Näherei entstanden in der Hansestadt. Dabei half eine Familie aus Mecklenburg-Vorpommern, die zahlreiche historische Nähmaschinen besitzt. Die Außenaufnahmen von Minneapolis wurden hingegen in Berlin auf der Havelinsel Eiswerder gedreht. In den MMC Studios in Köln wurde das Haus von Nazaret nachgebaut. Hier wurden die glücklichen Tage der Familie gedreht. In Wuppertal wiederum steht das Büro, in dem Nazaret die Suchanzeige für seine beiden Töchter aufgibt. Nazarets Schmiede in Mardin schließlich steht tatsächlich in Niedersachsen im Kiekeberg-Museum.