„Das ist eine Diesseitsfantasie“

Widerrede Arbeitsmarkt-Experte Bernhard Jirku von Verdi hält nichts vom Grundeinkommen. Er sagt: "Alle diskutierten Modelle würden die Löhne und Sozialleistungen senken"

Der Freitag: Herr Jirku, Verdi war gegen die Hartz-Reformen, auch der aktuelle Reform-Kompromiss wird von Ihnen nicht ge­billigt. Wäre das Grundeinkommen nicht ein Konzept, das die von Ihnen kritisierten Mängel am Hartz IV-System beheben würde?

Bernhard Jirku:

Nein. Uns geht es um eine Verbesserung der Existenzsicherung, nicht um

Das Grundeinkommen kann doch als Vision dafür dienen, welches Leben und Arbeiten wir eigentlich wollen. Der konkrete Kampf um einzelne Ver­besserungen könnte sich daran orientieren.

Dann muss man aber an all diesen Kapiteln ansetzen: Man muss sich etwa um ein Sanktionsmoratorium bemühen, wenn man keine Hartz IV-Sanktionen will; um höhere Regelsätze, wenn man die aktuellen Regelsätze zu niedrig findet, und so weiter. Man darf nicht nur zum Beten in die Grundeinkommenskirche gehen und sich über alle anderen er­heben, die noch im Alltags-Klein-Klein befangen sind.

Es klingt, als hätten Sie schlechte Erfahrungen ...

In der Tat. Etliche Befürworter des Grundeinkommens sind überhaupt nicht daran interessiert, Bündnisse mit den Gewerkschaften zu schmieden, um die Lebensbedingungen der Menschen Stück für Stück zu verbessern. Die wissen vielleicht nicht, wo man konkret ansetzen müsste, weil sie so damit beschäftigt sind, ein schönes Theoriegebäude auszuschmücken.

Sind die Gewerkschaften möglicherweise gegen das Grundeinkommen, weil die Arbeitsmarkt- und Sozialbürokratie Hunderttausende gut bezahlter Arbeitsplätze bereithält?

Nein. In jeder Gewerkschaft gibt es betriebssyndikalis­tische Tendenzen, klar. Aber wir versperren uns dem Grundeinkommen nicht, weil wir um Jobs in den Jobcentern fürchten, sondern weil alle bislang diskutierten Modelle die Löhne senken und nicht erhöhen werden, und weil sie die Sozialleistungen senken und nicht erhöhen. Nehmen Sie das Kindergrundeinkommen von 500 Euro, das auch in gewerkschaftsnahen Kreisen mal diskutiert wurde: Das würde den Kindern Geld wegnehmen. Das kann doch keiner wollen! Die Existenzsicherung für Kinder erfordert jetzt schon bis zu 800 Euro, für solche Kinder sind 500 Euro eine sehr reale Verschlechterung, das darf man doch nicht verschweigen!

Für viele Menschen ist die Sozialbürokratie schon darum ein Unterdrückungsapparat, weil sie so komplex ist. Ein Grundeinkommen würde als befreiend empfunden, weil es einfach zu verstehen ist.

Jede Art von allgemeiner Existenzsicherung setzt eine Verwaltung voraus. Beim Grundeinkommen wäre es eine penible Steuerverwaltung, um die notwenigen Milliarden einzutreiben. In der Tat: der Bürokratismus der Grundsicherung muss durch mehr Menschlichkeit ersetzt werden.

Sind die Gewerkschaften vielleicht selbst zu sehr Teil des Systems der Sozialbürokratie, stolz auf ihr Herrschaftswissen über Regelsatzverordnungen und so weiter, und erkennen nicht, wie belastend das die Bürger finden?

Wieder: nein. Wir haben uns in die Gesetze und ihre Hintergründe eingearbeitet, um sie zu verändern. Wir sind Teil der Zivilgesellschaft. Und wir machen uns die Mühe, an konkreten Punkten mit dem Ziel besserer Lebensbedingungen anzusetzen.

Erkennen Sie denn nicht die Vorteile des Grundeinkommens? Es würde die Arbeitszeiten umverteilen – was die Gewerkschaften immer wollten. Es würde dadurch mehr Gleichberechtigung ermöglichen. Oder sind die Gewerk­schaften immer noch dem männlichen Vollzeitver­diener verpflichtet?

Das ist doch Quark. Du liebe Güte, wir diskutieren bei Verdi

Bernhard Jirku ist Bereichsleiter für Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik bei der Gewerkschaft Verdi. Er ist von Haus aus Wirtschafts- und Sozialhistoriker und seit 40 Jahren politisch aktiv.


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Geschrieben von

Ulrike Winkelmann

Ressortleiterin Politik

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