Um 14 Uhr kommt der Anruf, von dem sie bis zuletzt gehofft hat, er würde ausbleiben. „Deine Ausstellung wurde attackiert“, sagt die Stimme am anderen Ende. „Da waren zwei Männer. Die haben deine Bilder mit Gabeln zerkratzt und von der Wand gerissen. Du musst herkommen.“ Yevgenia Belorusets sitzt da gerade auf einem Podium am anderen Ende von Kiew.
Die 31-Jährige soll eigentlich eine Diskussion über Homophobie moderieren. Thema: Was kann Kunst gegen den Hass tun, der Schwulen und Lesben überall in der Ukraine entgegenschlägt? Um Verantwortung soll es gehen, um Sichtbarkeit – um Theorie. Jetzt holt sie die Praxis durch die Nachricht aus dem Telefonhörer ein.
Yevgenia Belorusets entschuldigt sich beim Publikum und fährt los.
fährt los. Seit Anfang Mai zeigt sie ihre Bilder gegen Homophobie in Kiew und hat mit solchen Angriffen gerechnet. Auch der Zeitpunkt wundert sie nicht: Am nächsten Tag soll die erste Gay Pride Parade in Kiew stattfinden, ein öffentlicher Umzug von Schwulen und Lesben. Viele Menschen sind angereist, um sie zu unterstützen, aber die Stadt ist im Moment auch voller Gegendemonstranten. Ultrarechte Fußballfans sind da, die auf die Europameisterschaft warten, die am 8. Juni in der Ukraine und Polen beginnt.Hinter dem Angriff auf die Galerie steckt wohl jemand, dem Belorusets’ Ausstellung schon länger nicht gepasst hat. Sie heißt Ein Zimmer für mich allein. Es werden Fotos von schwulen und lesbischen Familien in der Ukraine gezeigt.Die meisten Personen auf den Bildern machen, was Menschen eben so tun, wenn sie zu Hause sind. Sie spielen mit der Katze, hängen Wäsche auf, stillen ein Baby. Alles ganz normal, das sagen die Bilder. Hier, guckt hin, unsere Tapete sieht aus wie eure. Und wenn wir traurig sind, halten wir uns fest. Genau wie ihr.Sowjetisches ErbeAber das Thema ist heikel. Nicht Sexualität an sich, darüber wird in der Ukraine offen und gern geredet, solange sie, so sagt es die Künstlerin, in heterosexuellen Bahnen verläuft. Offiziell ist es auch erlaubt, dass Frauen mit Frauen und Männer mit Männern leben. 1991 war die Ukraine das erste Land der ehemaligen Sowjetunion, das Homosexualität aus dem Strafgesetzbuch strich. Bis dahin galten Lesben als Kranke und Schwule als Attentäter. Frauen wurden psychologisch behandelt, Männer verhaftet. „Die Gesetze wurden abgeschafft, aber ohne gesellschaftliche Reflexion,“ sagt Belorusets. In den Köpfen haben sich Vorurteile gehalten.Homophobie kann verschiedene Gründe haben. Woher kommt sie in der Ukraine? Belorusets erklärt sich den Hass auf Schwule und Lesben mit gesellschaftlicher Isolation. Westliche Werte erreichten die Menschen nur über Popkultur. Nationalistische Stimmen im Land würden die traditionelle Ehe dagegen als Bastion in Zeiten der wirtschaftlichen Krise empfehlen. Männlich ist, wer seine Familie versorgen kann. Frauen werden infantilisiert. Die Debatte verläuft in Belorusets’ Augen „hochmoralisch“ und scheitert dennoch, weil die Gehälter klein sind und nur wenige Menschen unter diesen Umständen eine Familie gründen wollen. Dazu kommt die politische Passivität, „unser sowjetisches Erbe“.Und so ist es wahrscheinlicher, dass eine Gruppe konservativer Abgeordneter wie im vergangenen Jahr einen Gesetzentwurf gegen die „Propaganda der Homosexuellen“ einreicht, als dass jemand den Vorschlag des amerikanischen Präsidenten kommentiert, die gleichgeschlechtliche Ehe zu legalisieren. In der englischsprachigen Kyiv Post konnte man keinen Satz zur Reaktion aus Kiew lesen. Im Grunde herrscht eine stille Abmachung: Hinter geschlossenen Türen dürfen Schwule ihren Alltag leben, öffentlich werden sie angefeindet.Daher war es für Belorusets schwierig, Schwule und Lesben zu finden, die sich fotografieren ließen. Manche wollten reden, aber nicht aufs Bild. 14 Familien sind es schließlich geworden. Auf einigen Fotos sind die Gesichter nicht zu sehen.„Prinzipiell ist es ja gut, dass es einen Ort gibt, an dem man sein kann, wie man will“, sagt Belorusets. „Aber wenn Emanzipation auf die eigene Wohnung beschränkt ist, kommt es zum Hausarrest.“ Belorusets spricht elegantes Deutsch mit leichtem Wiener Einschlag. Sie hat in Österreich Literatur studiert und spielt mit dem Namen ihrer Ausstellung auf Virginia Woolfs Essay Ein Zimmer für sich allein an. Woolf plädiert darin für eine weibliche Privatsphäre, einen Befreiungsraum. Auf Belorusets’ Bildern aber wirken die Räume erdrückend.Wie gefährlich ein Ausbruch aus dem Zimmer sein kann, zeigt der Angriff auf die Galerie. Ein Aufseher wurde verletzt, als er versucht hat, die beiden Männer zu stoppen. Der Staat bestraft Schwule und Lesben nicht, er verurteilt jedoch auch nicht diejenigen, die sie attackieren. Gegendemonstranten haben es erreicht, dass am anderen Tag die Gay Pride abgesagt wird. Die Polizei erklärt, sie könne keinen Schutz garantieren für jene, die aus ihrer Sexualität eine große Show machen würden. Sie knickt nur allzu gern ein. Und weil sich deswegen viele nicht trauen zu zeigen, wen sie wirklich lieben, ranken sich die wildesten Fantasien um das heimliche Treiben der „Perversen“. Der Mythos der „homosexuellen Ansteckungsgefahr“ ist noch harmlos. Bisweilen entlädt sich der Hass in brutaler Gewalt.Bei ihren Recherchen in Ternopil, einem Ort im Westen der Ukraine, ist Belorusets einem 16-Jährigen begegnet, dem sein Vater alle Knochen gebrochen hatte, nachdem der Sohn mit einem Nachbarsjungen geschlafen hatte. Die Frau, die den Jungen blutend im Schnee fand, wurde gleich noch mitverprügelt.„Pervers und lesbisch“Belorusets sagt, sie habe alles getan, um den Rummel um ihre Fotos zu vermeiden. Eine Pressekonferenz sagte sie ab, weil sie homophobe Proteste fürchtete. Allein in diesem Jahr hat sie zwei Austellungen der Universität miterlebt, die zensiert wurden, weil die „Kommission für den Schutz gesellschaftlicher Moral“ sich beschwerte. Der Universitätspräsident sagte die Ausstellung Ukrainische Körper im Februar ab – drei Tage nach ihrer Eröffnung. Ein Foto zeigte einen Transsexuellen, es gab ein paar Aktaufnahmen, „aber keinen Sex“, sagt Belorusets. Damals hagelte es Pornografie-Vorwürfe: Drohanrufe, Beschwerden von Kirche und Kommission über die „perverse lesbische Fotografin“ gingen direkt an das Kulturministerium, an den Bürgermeister und an die ukrainische Staatsanwaltschaft.Diesmal ist der Fall noch komplizierter. Die Räume von Ein Zimmer für mich allein befinden sich in einem der ältesten Kinos der Stadt, dem „Zhovten“. Im Stadtzentrum existiert sonst nirgends ein Ort für unabhängige Künstler oder öffentliche Versammlungen. Die hohen Mieten können sich fast nur noch die Betreiber luxuriöser Modegeschäfte leisten. Der Skandal um ihre Ausstellung kann dazu führen, dass Yevgenia Belorusets ihre neue Galerie im Kino nun wieder verliert.Sie weiß nicht, wie es jetzt mit ihren Bildern weitergehen wird. Es sind Stationen in weiteren Städten geplant, zuerst in Simferopol, der Hauptstadt der Halbinsel Krim im Süden der Ukraine.Die Krim hat starke sowjetische Wurzeln und gehört nicht gerade zum schwulenfreundlichen Lager. Belorusets denkt über mehr Sicherheit für ihre Bilder nach. Ein paar will sie auch zerkratzt mitnehmen und ausstellen. Jeder soll das sehen.