Wir müssen reden

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Vor gut sechs Monaten schaute ich mir zum ersten mal die Freitag-Community genauer an. Vorher hatte ich mich mit diesem Community-Prinzip von Zeitungen noch nicht genau gefasst. Ich dachte zunächst, man kann dort nur auf Einladung schreiben. Dann stellte ich fest, dass sich jede/r anmelden kann und machte das mal spaßeshalber. Ich erwartete nach dem, was der Herausgeber immer postuliert, eine angeregt diskutierende Gemeinde mit mehr oder weniger anspruchsvollen Beiträgen, fruchtbare Interaktion zwischen Bloggern und Redakteuren – und war entsetzt: Zunächst über den Umgangston, der auch für Interneterfahrene unter aller Kanone ist, es sei denn man treibt sich auf den übelsten Blogs in dessen tiefsten Abgründen herum. Dann fand ich auch die Qualität der Blogs gelinde gesagt sehr durchwachsen. Von ewig langen Ladezeiten ganz zu schweigen.

http://farm7.static.flickr.com/6219/6333552836_82ec167808.jpg

Aber wo ich einmal da war, versuchte ich auch die schönen Seiten zu sehen und nicht gleich wieder abzuhauen: Ich fand interessante Blogs und tatsächlich interessante, vergleichsweise sachliche Diskussionen, bekam Feedback auf meine eigenen Gedanken, die sich auch oft zu anregenden Diskussionen entwickelten, gerade wegen der vielen unterschiedlichen Meinungen und Blickwinkel, die meinen Horizont erweiterten. Manche frustrierende Erfahrung war auch gut: Wenn ich mit meinen soziologischen Betrachtungsweisen immer wieder Missverständnisse hervorrief, musste ich überlegen, wie ich mich anders ausdrücke, um das, was ich sagen will, zu kommunizieren. Ich lernte auch, dass Blogs, die nicht journalistischen Standards entsprechen, durchaus interessant, anregend und liebenswert sein können.

Jedoch werde ich das Gefühl nicht los, auf einem versifften Wrack mit zerissenen Segeln ziellos über den Meinungs-Ozean zu dümpeln, hinter jeder zweiten Tür eine ausgemergelte, nicht selten irre Gestalt, von der man potentiell eins über die Rübe bekommen kann und sich so ihrer friedlichen Gesinnung und im Zweifel inneren Schönheit erst vergewissern muss. Ein Schiff, das einst stolz in die See stach, neuen Horizonten entgegen. Der Kapitän ist längst von Bord, redet an Land noch immer über das stolze Schiff, und besucht es noch zu gelegentlichen Ansprachen, den wahren aktuellen Zustand ignorierend. Nur noch zwei Leichtmatrosen versorgen die Zurückgeblieben notdürftig.

Kurz: Ich habe nicht das Gefühl, dass die Community beim Freitag noch irgendwen interessiert – Hauptsache Traffic. Sie ist vom publizistischen zum (unfreiwilligen) sozialen Experiment geworden. Man lässt die Leute vor sich hin schreiben, sich zanken und bekriegen und ruft hin und wieder wie ins Kinderzimmer pauschal rein: Streitet euch nicht und gut ist. Alle können schreiben, was sie wollen. Das wird dann als Hort der „Meinungsfreiheit“ verkauft. Der Haken an dieser Art Meinungsfreiheit: Viele Benutzer trauen sich nicht mehr, offen zu kommentieren, oder stellen Texte nicht ein, weil sie keine Lust auf diverse aggressive Reaktionen, persönliche Angriffe und Beleidigungen haben. Umgekehrt fühlen sich Leute, denen andere Foren zu restriktiv sind, wie zu Hause: Hier können sie nach Herzenslust pöbeln, beleidigen, belästigen, lügen, heucheln, agitieren, werben – weil das ist ja auch alles „Meinung“ und wird nicht sanktioniert. Wer doch mal gesperrt wird, kann sich problemlos mit neuem Nick wieder anmelden und weitermachen. Dem / der Benutzer/in, der sachlichen Austausch sucht, bleibt nur eins: Ignorieren und sich möglichst in seinen eigenen schützenden Kreis zurückzuziehen, und sei es auch nur das einsame vor sich her bloggen, sich mit niemandem anlegen und von niemandem provozieren lassen. Andere Schutzmöglichkeiten gibt es nicht. Außer Weggehen oder gar nicht erst dazukommen.

http://farm7.static.flickr.com/6057/6333552770_2ce1fc6e7e.jpg

Und vor lauter Beschäftigung mit dem erbärmlichen Klima kommt man nicht einmal dazu, sich mit Inhalten und technischen Dingen zu befassen, woran es eigentlich zu arbeiten gilt – und zwar von Nutzern und Betreibern gemeinsam. Um gute Blogs hervorzuheben, gibt es die Top-Blogs, von den weniger guten hofft man, dass sie still und heimlich im Orkus verschwinden. Pech, wenn so einer dann doch einem / einer ahnungslosen Internet-Durchsucher/in vor die Nase kommt und es steht „Der Freitag“ drüber. Einige besonders gute und / oder aktuelle Texte werden dann nochmal über Social Media gejagt, und bekommen so noch mehr Leser/innen. Das wars dann schon: keine weitere Möglichkeit, besondere Blogs hervorzuheben, wie z.B. „Blogger-Charts“, dass jede/r seine / ihre Favoriten küren kann, die interessantesten Blogs des Monats, thematisch sortierte Top Blogs, Aufnahme von mehr guten Blogs in die Printausgabe. Womit wir schon bei drei weiteren Problemen wären: Die mangelnde Wertschätzung der Blogger, die mangelnde thematische Zusammenfassung und die recht strikte Trennung Blogwelt / Redaktion, die ja angeblich gerade aufgehoben werden soll.

Letzteres Problem soll seit Jahr und Tag mit dem mittlerweile sagenumwobenen Relaunch besser werden. Oder soll ich sagen, dem Running Gag? Bis heute quält man die willigen, offenbar alle latent masochistischen User mit der langsamsten Software der Welt – und verliert dadurch täglich reihenweise potentielle Leser und Blogger – Traffic! Zudem ist mir nicht zu Ohren gekommen, das ein/e einzige/r Blogger/in dazu befragt wurde, was er / sie denn für sinnvolle Features hält, die eingebaut werden sollten. Professionell, auch absolut im eigenen Interesse, wäre eine Umfrage dazu gewesen – vorausgesetzt, der Relaunch ist wirklich geplant.

Die große Frage ist letztendlich: Hat die Freitag-Redaktion und der Herausgeber noch etwas mit der Community vor oder will sie sie langsam auslaufen lassen – vielleicht irgendwann ganz ohne Moderation betreiben und letztendlich abschalten?

Für den ersteren Fall: Was will sie mit der Community erreichen? Mehr als Traffic, der dem Hören-Sagen nach auch nicht so gut läuft? Besteht vielleicht sogar der Anspruch noch, den der Herausgeber weiter so beharrlich in der Öffentlichkeit vertritt? Wenn ja, sollte er die immense Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit nicht länger ignorieren. Der zweite Schritt wäre, endlich die Benutzer für voll zu nehmen, ihnen zuzuhören und mit ihnen zu reden. Meines Wissens nach gab es noch nie eine Feedback-Konferenz, in der sich Blogger und Betreiber zusammen gesetzt haben, um über den Status Quo und die Weiterentwicklung zu diskutieren. In kapitalistischen Firmen werden Leute für so etwas bezahlt, weil man erkannt hat, dass letztendlich die Firma davon profitiert – hier stoßen Leute mit Ideen, Anregungen und Kritik, die darum betteln, gehört zu werden, zumeist auf taube Ohren.

http://farm7.static.flickr.com/6111/6332800715_bbbb8bd2ef.jpg

Dabei könnte das Freitags-Forum trotz eingeschränkter Möglichkeiten eine wunderbare Plattform für Austausch darstellen – und dazu noch mit einem familiären Klima glänzen. Es könnte ein Aushängeschild für das Blatt sein, sich wirklich zu einem ernst zu nehmenden linken Forum entwickeln, das aber auch offen ist für andere politische Meinungen und inhaltlichen Austausch ermöglicht – nähme man die drauf Schreibenden nur vage ernst, inhaltlich, als Personen und als Diskussionspartner/innen für die Weiterentwicklung. Folgende Vorschläge aus meiner Sicht, für den Fall, dass der Freitag noch irgendein Interesse an seiner Community haben sollte:

Klima

  • klarere/s Konzept / Philosophie / Zielrichtung

  • deutlich schärfere Sanktionierung von verbalen Ausfällen jeglicher Art

  • Verhinderung ständiger Neuanmeldung von gesperrten Benutzern, die das Prinzip ad absurdum führen, ggf. durch für die Redaktion sichtbare Echtnamensangabe bei Anmeldung

  • genaueres Hinschauen bei Konflikten, wo diese herrühren - kein allgemeines Abstrafen aller Seiten wie bisher üblich

  • Mehr Vertrauen in die (engagierten) Blogger und Anerkennung auf Augenhöhe seitens des Freitag

  • Mehr Austausch / inhaltliche Anerkennung zwischen Redaktion / Herausgeber und Blogger/innen z.B. über deutlich mehr Interaktion (Kommentare, Mitgestaltung, Bezugnahme etc.), Verknüpfung

  • Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls trotz unterschiedlicher Ansichten und Interessen


Inhalte / Technik

  • Bessere Verknüpfung gleicher / ähnlicher Themen, unabhängig ob von Redaktion oder Blogger/innen

  • grundsätzliche Qualitätsansprüche an die Blogs (z.B. mehr als einen Link plus Zitat), die aber auch Ausnahmen gestatten

  • mehr Anreize, qualitativ hochwertige Blogs zu schreiben

  • Bessere Integration der Blogtexte im Blatt

  • bessere Förderung / Akzeptanz von engagierten, guten Bloggern, die das Blatt auch in der Print-Ausgabe inhaltlich konkret bereichern können, u.a. in unterrepräsentierten Themen wie Wirtschaft, oder Auftrags-Artikeln zu ihren Spezialgebieten

  • schnellere Löschung von Beiträgen, die offensichtlich Werbung, Agitation, Propaganda, Hetze o.ä. sind – bei richtiger Themenverknüpfung tauchen die nämlich ganz unvermittelt wieder aus dem Orkus auf

  • verbesserte Suchoptionen (z.B. nach Blog / Blogger/in / Autor / Thema etc.)

  • Neuorganisation der Community-Startseiten

http://farm7.static.flickr.com/6224/6332800955_5ae3f7b92f.jpg

Jakob Augstein hat dem Blogger ChristianBerlin mündlich zugesagt, dass er vor dem nächsten Salon eine Stunde früher kommen würde, um über die Community zu reden. Das wäre am 15.11. um 18.30 Uhr. Reichlich knapp, aber wenn er da wirklich auftaucht, dann wäre es ein erster Schritt in die richtige Richtung. Schön wäre es auch, wenn Maike und Jan vorbeischauen könnten, plus interessierte Redakteur/innen wie z.B. Michael Angele, Susanne Lang und Jörn Kabisch. Wichtig ist dabei, dass man die Blogger/innen nicht nur reden lässt, sondern auch wirklich zuhört, über das Gesagte ernsthaft nachdenkt und es im Konzept verarbeitet. Natürlich ist es letztendlich der Freitag, der sehen muss, was geht und was er will – aber wenn er nicht zuhört und redet, hat er schon verloren. Und es wäre Schade darum.

P.S. Heute haben übrigens mehrere Blogger/innen ihre Gedanken zum Thema Community unter dem Titel "Wir müssen reden" eingestellt. Alles mE. sehr lesenswert!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Popkontext

Journalistin, Bloggerin, DJ, Fotografin - Kultur, Medien, Politik, Sprache // Websites: popkontext.de / wortbetrieb.de

Popkontext

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden