Ars Vivendi

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Wien, nur Wien, du kennst mich up, kennst mich down“ ist mit und nach dem 11. November gans selbstverständlich. In den unzähligen Lokalen, Stuben, Feinschmeckertempeln ist es ein Muss, ein Martinigansl auf der Speisekarte zu führen, schon ausgelöst oder als Tranche, stets mit Serviettenknödel und Blaukraut. Mindestens eine Woche lang, um Leib und Seele mit recht viel Fett auf die kommende Fastenzeit gebührend vorzubereiten. Aber nicht nur die richtige Zubereitung macht Falcos Lyrics zu einem Abbild intestiner Befindlichkeit, sondern erst recht die Frage, woher das Geflügel stammt. Die Landwirtschaftskammer Burgenland weiß, dass 81% der Vögel aus dem Ausland importiert werden, hauptsächlich aus Ungarn. Weswegen jeder Geflügelhändler unter der Hand versichert, der Vogel habe noch vor Stunden auf der Weide eines ihm persönlich bekannten Bauern gelebt, nur um justament zum höheren Wohl und Lob des Käufers sein Leben auszuhauchen.

Fein schmecken ist etwas anderes ...

Die Schere zwischen dem geflüsterten Marketing und statistischer Wirklichkeit muss sich vorzeitig bis zum GaultMillau Österreich herumgesprochen haben. Als der Gourmetguide 2011 einen Tag vor Martini in der Wiener Hofburg vor „rund 120 Gästen aus Wirtschaft, Medien und Kultur“ vorgestellt wurde, war die Betonung: „Aufgescheucht durch Skandale und geschmackliche Uniform der globalisierten Lebensmittel, sehnt man sich nach Sicherheit, Vertrauenswürdigkeit und Ursprünglichkeit". Das zieht sich wie ein roter Faden durch alle Spracheditionen. In der deutschen lautet das Credo: „Die Küche der Zukunft ist ungekünstelt, urwüchsig, pur, gesund und traditionsbewusst.“ Und in Frankreich wurde Edouard Loubet wegen seiner auf Wildpflanzen und vergessenen Gemüsesorten basierenden Küche zum Koch des Jahres 2011 gekürt.

Nicht nur dieses Trendsetting dürfte Italien auf den Plan gerufen haben. Die erwähnten Skandale lassen sich zwanglos mit Dioxin in der Mozzarella aus Büffelmilch oder mit Formfleisch samt Kunstkäse in Verbindung bringen. Alles idealiter vereint auf einem Teil namens Pizza, möglichst aus der Tiefkühltruhe, möglichst aus dem Hause von Backin. So etwas kann das Land der Erfinder von Slow Food nicht auf sich sitzen lassen. Denn das steht für „buono, pulito e giusto“ (dt. Übersetzung: Gut, sauber und fair, Tre Torri, 2007, ISBN 978-3-937963-55-6) seines Gründers Carlo Petrini: Was von der Herstellung bis zum Konsum nicht alle drei Kriterien in sich vereint, ist nicht slow food. Alles Gründe, die Italien zusammen mit Spanien, Griechenland und Marokko bewogen haben, die „Mediterrane Kost“ als Kulturerbe der Menschheit anzumelden. Seit das Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes geschlossen wurde, hat die UNESCO 2008 und 2009 166 Beispiele für „lebendige kulturelle Ausdrucksformen“ in einer Liste zusammengestellt. Traditionelle Esskultur war bisher nicht darunter.

... als Esskultur

Das Kulturerbekomitee der UNESCO, das dieser Tage in Nairobi (Kenia) tagt, hat es freilich nicht leicht gehabt. Denn Frankreich hat einen ganz ähnlichen Antrag mit dem Titel „Le repas gastronomique des Français“ gestellt, wobei für „repas“ im Antrag gleich alle anderen möglichen Synonyme mit angezogen wurden: „Culture populaire du bien manger et du bien boire: repas festif, festin, banquet, gueuleton, bonne bouffe (dans les jeunes générations) où se pratique « l’art de la bonne chère ».“ Ganz selbstverständlich wird begründet, dass dies Ergebnis sei von kultureller und sozialer Durchdringung, regionaler Vielfalt und migratorischen Flüssen. „Die Gemeinschaft wird durch gemeinsame Übungen wie das gastronomische Mahl erst zementiert“: Wäre es nicht die Begründung für französische Esskultur, es wäre die Lösung für Europas derzeitige Probleme – weniger durchregieren und mehr zusammen tafeln.

Vielleicht ist das ein Motiv, warum beide Anträge glatt und noch vor Ende der Sitzung des Komitees durchgegangen sind. Unisono lautet die Begründung: „Die Eintragung in der Liste könnte dazu beitragen, das immaterielle kulturelle Erbe sichtbarer zu machen und sich als Katalysator für gegenseitigen Respekt und interkulturellen Dialog erweisen.“

Ob das Martinigansl, das mittlerweile den gesamten südlichen deutschsprachigen Raum beherrscht, je die höheren Weihen wie weiland die Wächter des römischen Kapitols erlangen wird, wer weiß das schon. Urwüchsig, pur, gesund und traditionsbewusst? Hauptsache ist, es bleibt das Tischgespräch. Gans sicher.

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Geschrieben von

ed2murrow

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ed2murrow

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