Strom der Flucht, wo ist seine Mündung?

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Wenn Flüsse über die Ufer zu treten drohen, werden Sandsäcke gestapelt, später Deiche erhöht. Was aber ist, wenn kein Wasser, sondern Menschen überborden?

Die Erleichterung, dass der autokratische Präsident Tunesiens Ben Ali abgetreten und geflüchtet war, konnte größer und internationaler nicht sein. Wohin er sein Exil angetreten hat, war nur von kurzem Interesse, meist schon auf den Seiten des Boulevard, vor allem wegen der Menge des mitgenommenen Goldes. Die Frage hingegen, warum trotz der allgemeinen Erleichterung derzeit massenweise Menschen aus Tunesien -eigentlich dem Ort einer Befreiung- flüchten, scheint noch weniger relevant; nur noch eine Sache zwischen der Europäischen Union und Italien.

Pläne der Vergangenheit

In den vergangenen Tagen sind Tausende von Menschen direkt aus dem Hafen von Zarzis in Südtunesien kommend mit Fischkuttern und Behelfsbooten auf Lampedusa gelandet. Die italienische Insel, knapp vor der tunesischen Küste gelegen, war schon in der Vergangenheit ein Brennpunkt europäischer Flüchtlingspolitik gewesen. Alleine von Mitternacht bis zum Mittag des gestrigen Sonntag waren es 1.350 bei drei bereits gesichteten, aber noch nicht angelandeten Booten. Vorsichtigen Schätzungen zufolge sind das innerhalb von fünf Tagen an die 6.000 Menschen, im ganzen Jahr zwischen Juli 2008 und 2009 waren es 20.000.

Wegen der restriktiven Flüchtlingspolitik von Innenminister Roberto Maroni (Lega Nord, LN) waren in Italien Aufnahmeeinrichtungen umbenannt worden in „Zentren zur Identifizierung und Abschiebung“. Begleitet von nur ganz leiser Kritik der EU hatte die Regierung des Landes damit klar gemacht, dass es europäische Festungspolitik buchstäblich anwendet: Abfangen, erkennungsdienstlich behandeln, was für den eigenen Arbeitsmarkt -vor allem dem parallelen der illegalen Beschäftigung- nicht gebraucht wird, Richtung „sicheren Drittstaat“ Libyen expedieren. Das ist konsequent, wurde doch auf europäischer Ebene diese Politik von dem vormaligen stellvertretenden Vorsitzenden der EU- Kommission Franco Frattini vorbereitet. FRONTEX u.a. sind Erfindungen dieses ehemaligen Kommissars für Justiz, Freiheit und Sicherheit, der heute als Außenminister Roms fungiert.

... stoßen an Grenzen

Dabei wurde alles getan, um Flüchtlinge erst gar nicht bis in italienisches Hoheitsgebiet vordringen zu lassen. Die italienische Marine war angewiesen, Flüchtlingsboote bereits auf See aufzubringen und nach Möglichkeit sofort, also auch ohne Überprüfung etwaigen Asylrechts, Richtung Libyen zu verbringen. Das ermöglichte Roberto Maroni, das bis dahin stets strukturell überforderte Zentrum auf Lampedusa mangels Masse zu schließen, der Lega Nord das als politischen Erfolg in Wahlkämpfen einzusetzen.

Angesichts des neuen Ansturms ist die Handhabung buchstäblich an ihre Grenzen gestoßen, das Zentrum in Lampedusa musste wieder geöffnet werden. Weswegen umgehend der italienische Innenminister die EU angeprangert hat, sie tue nichts: „Ich habe die dringende Intervention des EU angemahnt, da der Maghreb explodiert.“ Was er darunter versteht, hat Maroni nicht verheimlicht. Denn gleichzeitig hat er Tunesien die Entsendung eines Militärkorps angeboten, „um Ordnung zu schaffen“. Was die neue Regierung in Tunis umgehend als inakzeptabel abgelehnt hat. Die Stationierung ausländischer Soldaten komme nicht in Frage.

... in stiller Komplizenschaft

So sehr taktisch das Verhältnis der Regierung in Rom zur Wahrheit auch sein mag, die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, vor allem solche mit nur geringer Außengrenze, befördern dies und befeuern in den jeweiligen Ländern, die den „Sperrgürtel zum Elend“ bilden, rassistische Tendenzen. Auch in Südspanien, Südfrankreich, auf Malta, in Griechenland. Denn es ist für jeden erkennbar, dass Flüchtlinge zur Dispositionsmasse herabgewürdigt werden, um deren Willen grundtief menschenverachtende Politik nicht nur geduldet, sondern salonfähig gemacht wird, wie es das Beispiel der Lega Nord in Italien beweist.

Die Frage, die man sich auch in Deutschland stellen wird müssen, lautet: Wie gedenken wir, auf humanitärer Seite die Folgen zu behandeln, die zwangsläufig aus gutgeheißenen Umbrüchen entstehen? Also was mit den Menschen geschieht, die aus dem einen oder anderen Grund zur Flucht gezwungen sind? Das eigentümliche Schweigen dazu sollte zu denken geben. e2m

[Ergänzung 15.02.2010, 12:00 Uhr:
Nicht alle schweigen. Von rahab übernehme ich hier einige Links:
www.borderline-europe.de/
www.proasyl.de/
initiativgruppe.wordpress.com/2011/02/15/tunesien-lampedusa-deutschland-fluchtlingsfragen/
www.medico.de/themen/menschenrechte/migration/dokumente/ein-fahrtenschreiber-der-migration/3950/ ]

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Geschrieben von

ed2murrow

e2m aka Marian Schraube "zurück zu den wurzeln", sagte das trüffelschwein, bevor es den schuss hörte

ed2murrow

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