Eher Splittergruppe: der schwierige Start der "Digitalen Gesellschaft"

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Die „Digitale Gesellschaft“ soll die Lobbyorganisation für alle Bürgerinnen und Bürger im Netz sein. So spannend und sinnvoll die Idee auch ist: ich sehe mehrere gravierende Probleme, die mich zweifeln lassen. Zuerst einmal ist der Verein durchsetzt von den üblichen Verdächtigen, die mit Sicherheit nicht die breite Mehrheit der Bevölkerung repräsentieren, sondern lediglich alten Wein in neuen Schläuchen anbieten. Wie soll der umfassende Vertretungsanspruch konkret eingelöst werden, wenn eine Handvoll Spezl für die Vereinskontrolle verantwortlich zeichnet? Hier wäre eine Öffnung in Richtung bisher unbeteiligter Gruppen, Vereine und Verbände besser gewesen als die x-te Vernetzung mit alten Freunden.

Problem Nummer Zwei: erneut sind netzaffine Menschen am Werk, die mit dem Anspruch antreten, die Digitalisierung besser zu verstehen und deshalb effektiver gegen Netzbedrohungen vorgehen zu können als andere. Doch dieser Trugschluß wird auch durch vielfaches Wiederholen nicht wahrer. Nur weil sie die pure Technik besser verstehen als die meisten Userinnen und User, sind sie noch lange nicht in der Lage, gesellschaftliche Probleme zu lösen – auch wenn sich tumbe Internetausdrucker aus der Politik immer wieder mithilfe von Fachtermini bloßstellen lassen und so eine leichte Beute sind. Doch gesellschaftlichen Herausforderungen begegnet man zum Leidwesen vieler Nerds nicht allein mit Technik, sondern interdisziplinär, ganzheitlich und im zivilisierten Diskurs mit einer ordentlichen Portion Kompromißbereitschaft.

Das dritte Problem sind die Startschwierigkeiten des Vereins, die nicht an sich problematisch sind, sondern durch ihre konkrete Ausprägung erschrecken: wenn zuerst einmal der Eindruck entsteht, daß gerade Offenheit fehl am Platze ist, ist der Fehlstart perfekt. Viertens ist die erstaunliche Naivität anzumerken, die sich auch durch unprofessionelle Dünnhäutigkeit gegenüber den Kritikern zeigt. Es dürfte inzwischen eine Binsenweisheit sein, daß man im Netz gerne mal ziemlich grundlos nörgelt – warum sollten ausgerechnet die Vorkämpfer für das Gute im digitalen Raum davon verschont bleiben?Wenn die vermeintlichen Netzexperten so verschnupft reagieren, scheinen sie ihre Sphäre vielleicht doch nicht so gut zu kennen, wie sie meinen. Es gilt also, die Sache über die Eitelkeit zu stellen und eine breite Vernetzung mit allen gesellschaftlichen Kräften zu realisieren, sonst verschwindet auch dieses Projekt wie so viele andere vor ihm in der Bedeutungslosigkeit – oder spricht heute noch jemand von der Piratenpartei?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stephan Humer

Stephan G. Humer

Promovierter Diplom-Soziologe u. Informatiker; Professor und Leiter Forschungs- und Arbeitsbereich Internetsoziologie, Hochschule Fresenius Berlin; Koordinator Spitzenforschung, Netzwerk Terrorismusforschung e.V.

Stephan Humer

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