Im Kreis der Ahnungslosen: Identität ist mehr als ein Name

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Bundesinnenminister Friedrich ist nun wohl endgültig im Kreise seiner Kabinettskollegen angekommen: er hat aufgezeigt, wie dringend notwendig eine vernunftorientierte Internetanalyse (samt dazugehöriger sachlicher Diskussion) ist, indem er einen kurzsichtigen und völlig haltlosen Vorschlag machte. Seine Art, über die Anonymität im Internet nachzudenken, offenbarte vor allem eines: Unkenntnis.

Der Minister befindet sich damit freilich in bester Gesellschaft, denn zahlreiche Politiker haben bereits mit seltsamen, teilweise völlig absurden Internetideen ihre Unwissenheit bewiesen. Man denke beispielsweise an den Sommerlochkampf gegen Google Street View vor einem Jahr, die Facebook-Abmeldung von Verbraucherschutzministerin Aigner oder die berühmt-berüchtigten Expertisen von Hans-Peter Uhl, dem innenpolitischen Sprecher der Unions-Fraktion im Bundestag.

Verbessert hat sich seitdem - wie wir nun sehen - nicht viel. Und das ist für all die Menschen, die ganz konkreten Aufklärungsbedarf haben, sehr bedauerlich. Gerade ein solch sensibles Thema bietet sich nun ganz und gar nicht für eine lockere bundespolitische Plauderei (mit den üblichen, von Herrn Friedrich auch erwarteten Folgen) an, sondern sollte von Menschen mit hoher Verantwortung für das Gemeinwesen besonders sensibel gehandhabt werden. Auch wenn Herr Friedrich sich inzwischen mißverstanden fühlt, so ändert dies nichts an der offensichtlichen Notwendigkeit von wissenschaftlicher Analyse und Erläuterung in Hinblick auf die Digitalisierung unserer Lebenswelt. Denn es wird viele Menschen geben, deren Unwissenheit der fruchtbare Boden für solche Ideen ist und die damit wieder mal ein Stück weit daran gehindert werden, die Digitalisierung unserer Gesellschaft richtig einzuschätzen und zu verstehen.

Dieser Fall ist zudem ganz besonders sensibel: Identität ist im Internet weit mehr als nur Username und Paßwort oder ein trivialer Zeitvertreib mit Namen und Nicks. Es ist vielmehr ein Wechselspiel zwischen Innen und Außen: nie stabil, fortwährend fragil, definiert durch den dauerhaften Wandel. Identität ist gleich Individuum - das geht über reine Realnamensdiskussionen weit hinaus. Die digitale Identität ist aber kein ausschließlich psychologisches, sondern ein starkes soziologisches Thema. So oder so sind wir soziale Wesen und wirken immer auch auf andere. Unsere digitale Identität füllt eine mehrfache Form aus: sie dient sowohl als Inhalt und beschreibt uns als Individuum, aber sie ist auch Produkt unseres Onlineverhaltens oder dessen, was andere daraus machen. danah boyd liegt mit ihrer Annahme deshalb völlig richtig:

"There is no universal context, no matter how many times geeks want to tell you that you can be one person to everyone at every point. But just because people are doing what it takes to be appropriate in different contexts, to protect their safety, and to make certain that they are not judged out of context, doesn’t mean that everyone is a huckster. Rather, people are responsibly and reasonably responding to the structural conditions of these new media."

Vorsichtiges (d.h. hier: anonymes bzw. pseudonymes) Handeln ist deshalb nicht automatisch verwerflich oder nur eine unbedeutende Spielerei, sondern eine sehr kluge Strategie, getragen von Vorsicht und dem Wunsch nach individueller Kontrolle. Schließlich kann man häufig genug nicht abschätzen, wann, wo und in welcher Form einem Daten begegnen werden und ob dies zum eigenen Vor- oder Nachteil sein wird. Und solange es für viele Bürgerinnen und Bürger mangels umfangreicher Grundlagenforschung und Methodenentwicklung nur die Strategie "Versuch und Irrtum" für das Bewegen im digitalen Raum gibt, sollte man mit hastig dahingeplauderten Forderungen wohl etwas vorsichtiger sein.

Pseudonymität und Anonymität sind wohl ein ähnlich wirksamer Schutz wie die alltägliche Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes in der analogen Welt. Denn auch nicht jedes einzelne Anschreien eines anderen Verkehrsteilnehmers im hektischen automobilen Alltag liegt dem Personaler zur Beurteilung des Bewerber-Charakters zum Zeitpunkt der Einstellung als relevantes Bewertungsmosaiksteinchen vor. Und das ist auch gut so. Oft genug entsteht nämlich nur ein Zerrbild, resultierend aus ungeordneten Daten, gespeist aus unterschiedlichsten Quellen, ohne Einbettung in einen Kontext.

Vollends abenteuerlich wird es übrigens, wenn man die Anonymitätsdiskussion mit der Diskussion über ein Vergessen im Internet verbindet: einerseits sucht man Möglichkeiten, daß digitale Daten auch wieder verschwinden (zum Schutze des Individuums, so Friedrichs Kollegin Aigner), andererseits möchte man, daß man Daten unzweideutig einem Individuum zuordnen kann (mithilfe der Offenbarung des Individuums). Nicht nur, daß sowohl das Eine als auch das Andere technische Unmöglichkeiten sind: es handelt sich hier um Widersprüche, die ernsthafte Zweifel daran aufkommen lassen, daß die (Bundes-)Politik inzwischen über mehrheitlich brauchbare Internet-Strategien verfügt.

Individuelle Würde und Selbstbestimmung sind bedeutende Eckpfeiler unseres Gemeinwesens - und sie gelten auch im digitalen Raum. Indem man Anonymität und Pseudonymität kurzerhand pauschal zu diskreditieren versucht, indem man es u.a. mit einem menschenverachtenden Attentat in Verbindung bringt, gefährdet man ein ganzheitliches Identitätsmanagement und beschneidet Handlungsmöglichkeiten, die für Individuen in der digitalen Sphäre dringend nötig sind. Dies ist aus soziologisch-psychologischer Perspektive höchst bedenklich, denn der User sollte in seinen Handlungsmöglichkeiten so weit wie möglich gestärkt und nicht unnötig eingeschränkt werden. Doch nicht nur das: es zeigt auch eine freiheitsbeschneidende Stoßrichtung auf, die der Gesellschaft ganz allgemein zu denken geben sollte.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stephan Humer

Stephan G. Humer

Promovierter Diplom-Soziologe u. Informatiker; Professor und Leiter Forschungs- und Arbeitsbereich Internetsoziologie, Hochschule Fresenius Berlin; Koordinator Spitzenforschung, Netzwerk Terrorismusforschung e.V.

Stephan Humer

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden