Salut à Jörg

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Vor einem Jahr ist ein Freund gestorben. Jörg. Da hatte ich ihn schon aus den Augen verloren. Dafür gab es eine Menge Gründe. Der schlimmste ist meine Unfähigkeit, mit der Krankheit eines Anderen umzugehen. So war mir auch der Todestag nicht mehr bewusst - bis es mir eben, aus heiterem Himmel, einfiel. Aus heiterem Himmel? Sicher nicht.
Wir lernten uns durch Zufall kennen. Er arbeitete als Assistent von Ballett-Direktor Uwe Scholz an der Oper Leipzig, war neu in der Stadt. Wir haben ihn, fasziniert von seiner Unbeschwertheit. Fröhlichkeit, seinem Charme, an die Hand genommen, haben ihn zum Frühstück-Jour-fixe eingeladen, ihm unsere Ersatzfamilie angeboten.

Irgendwann hat er mich an die Hand genommen. Hat mich für Uwe Scholz und seine Art des Choreographierens sensibilisiert. Wir haben gestritten - nicht über die Neoklassik, sondern darüber, dass seine Loyalität manchmal der Freundschaft im Wege stand. Heute verstehe ich ihn besser. Damals hielt ich ihn für einen Flüchtenden, Lavierenden.
Wir haben Silvester gefeiert über den Dächern von Leipzig, haben Sinatras "Something stupid" in Endlosschleife gehört. Wir haben, als die USA den Irak bombardierten, in der Fußgängerzone vor einem Fernseher gestanden und uns festgehalten. Wir haben auf der griechischen Insel Tinos Ablenkung gesucht. Er hat mir mit Taucherbrille einen Weg aus dem Wasser auf die Felsen gezeigt, damit ich nicht auf Seeigel trete. Er hat mir dort Kochen beigebracht, weil er krank wurde. Er hat mir das Ruhrgebiet gezeigt.


Er ging zurück nach Köln. Ging nach Paris. Er fand die Liebe. Und dann eine andere. Er war ehrgeizig und romantisch und fröhlich.


Irgendwann kam er immer öfter nach Deutschland, wohnte bei seiner Mutter. An seinem 40. Geburtstag rief ich ihn an (vermutlich der 40., er sprach nicht gern über sein Alter), da stand er gerade auf einem zugigen Bahnsteig und rauchte einen Joint gegen die Schmerzen. Er hatte Krebs. Ich glaubte ihm, dass alles gut ist. Ich wollte es glauben. Er hat sich schrille Perücken gekauft und Partys gefeiert. Mehr weiß ich nicht.


Vor einem Jahr fuhr ein gemeinsamer Freund von der Frankfurter Buchmesse aus zu ihm. Für ein paar Stunden. Ich fuhr zurück nach Leipzig. Arbeit, Feigheit.
Salut à Jörg!

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Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

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