Keine Macht dem Faktischen!

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Zu kurz gedacht, liebe Netzlibertäre - 6

Das Internetzeitalter hat begonnen, die ersten politikfähigen Utopien zu gebären. Perplex macht es mich allerdings, wenn Leute, die erst kurz vor der Öffnung des Internets geboren wurden, schon ganz frühergraut illusionslos die technischen Entwicklungen, in die sie hineingewachsen sind, für schlicht gegeben halten und sich dem scheinbar Unvermeidlichen dreingeben.

„Datenschutz ist im Netz nicht mehr möglich“, behauptet zum Beispiel die datenschutzkritische Spackeria. Das Web ist eben wie es ist, also müssen wir jetzt alle damit klarkommen. Für mich ist der Grundgedanke dahinter abstrus. Der Mensch soll sich seiner eigenen Technik anpassen, weil: geht halt nicht anders. Wir sollen einen Teil unserer Gestaltungsfähigkeit abgeben, weil die Artefakte, die wir bis dato noch selbst gestaltet haben, uns plötzlich als Sachzwang begegnen. Das ist entweder Ideologie oder vorschneller Fatalismus.

Die Argumentation zum Urheberschutz im Grundsatzprogramm der Piratenpartei lautet ganz ähnlich: „Da sich die Kopierbarkeit von digital vorliegenden Werken technisch nicht sinnvoll einschränken lässt ..., sollten die Chancen der allgemeinen Verfügbarkeit von Werken erkannt und genutzt werden“. Wie die allgemeine Verfügbarkeit von kulturellen Werken im Detail aussehen kann, ist noch Verhandlungssache. Die Ausgangsbedingung ist es, die mich stutzig macht. Die Piraten „leiten viele ihrer Forderungen aus den technischen Gegebenheiten des Netzes ab“, die für sie „wie Naturgesetze stehen“, sagt Christopher Lauer, kulturpolitischer Sprecher der Piraten-Fraktion im Berliner Parlament, im Spiegel-Interview vom 16. April 2012. Dass ein Kotau vor dem Faktischen im Urheberrechtsprogramm als Ausgangsbedingung steht, widerspricht dem politischen Gestaltungswillen, den die Piraten sonst an den Tag legen, und den ich sehr respektabel finde.

Es mag sein, dass sich die Kopierbarkeit von digitalem Content technisch nicht effektiv einschränken lässt. Es mag aber auch sein, dass von Nutzungsfreiheiten, wenn sie einmal eingeräumt werden, im Übermaß gebraucht gemacht werden wird. Übermaß meint hier, dass die Nutzer eher ohne Gegenleistung auf den Content zugreifen werden, die Hersteller also weniger Einkommen haben werden. Brechen die Dämme des Urheberschutzes, kann Fairness nicht mehr eingefordert werden. Wenn wir schon von „Naturgesetzen“ sprechen, dann sollten wir auch die Entropie des Libertären in den Blick nehmen, ein altes Problem der liberalen Weltsicht, die gerne übersieht, dass der Entropie bisweilen aktiv etwas entgegengesetzt werden muss, weil sie sonst Ungleichheit und Ungerechtigkeit ausweitet.

Nichtsdestotrotz würde auch ich gerne am liberalen Gedanken der Piraten festhalten, möglichst wenig durch Regelungen festzuzurren. Jenseits des politisch zu Regelnden ist jede einzelne Nutzerin gefragt, sich zu überlegen, wie sie Content im Netz jeweils angemessen vergüten will – das er vergütet werden sollte, steht nicht zur Debatte, das ist den meisten Nutzern aber klar. Urheber sehen ihre Arbeit zu Recht entwürdigt, wenn die User-Community sie ohne Gegenleistung konsumiert. Die technische Beschränkung der Nutzung ist nur eine Seite der Geschichte, die ethische Einschränkung, die letztlich nur eine Selbstbeschränkung sein kann (www.freitag.de/community/blogs/pploeger/kulturelle-werke-sind-nicht-ohne-verantwortung-zu-haben), eine weitere. Die ethische Bildung muss deshalb ein Teil der Bildunganstrengungen sein, die sich auch die Piraten auf die Fahnen geschrieben haben.

Ich nehme der Piratenpartei gerne ab, dass sie mit Ernst daran arbeitet, die Situation sowohl für die Nutzer als auch für die Kreativen zu verbessern. Vielleicht lassen sich die ersten Vorschläge, zum Beispiel die einer pauschalen Vergütung für Kreativarbeiter, am Ende tatsächlich zu praktizierbaren Modellen ausbauen. Statt vor der vermeintlichen Macht des Faktischen zu stehen wie das Kaninchen vor der Schlange lasst uns lieber weiter an guten Alternativen arbeiten, die Beschränkungen nur dort setzen, wo sie wirklich nötig sind und den Einzelnen zutrauen, dass sie moralisch handeln können! Breiter Zugang zu kulturellen Werken und eine stabile Existenzgrundlage für die Kulturschaffenden klingt zusammen nämlich wirklich wie eine staunenswerte und schöne Utopie.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Peter Plöger

Wir brauchen nicht mehr Glück, wir brauchen mehr Sinn.

Peter Plöger

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden