Nach der Wahl: Welche Wahl lässt uns die Krise?

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Krise? Welche Krise? Vielleicht die, dass bis zum Jahr 2050 die CO2-Emissionen um 85 Prozent sinken müssen, will man die Klimaerwärmung auf maximal 2 Grad Celsius begrenzen, um irreversible, unbeherrschbare Folgen zu vermeiden – und dies bei einer voraussichtlichen Vervielfachung des Weltbruttoinlandsprodukts um den Faktor drei oder vier bis zu diesem Datum? Oder doch die der Entstaatlichung, also der zwei Milliarden Menschen, die gegenwärtig in Ländern leben und sterben müssen, die als unsicher, scheiternd oder gescheitert gelten? Die Welternährungskrise vielleicht? Oder dann doch jene ökonomische Verlaufsform, die zunächst „Finanzkrise“ genannt wurde und jetzt „Weltwirtschaftskrise“ genannt wird?

Und dennoch ist es nicht ganz falsch, jetzt von der Krise im Singular zu reden. Denn die soeben beschriebenen krisenhaften Phänomene im Naturverhältnis, der Staatlichkeit und im Ökonomischen betreffen allesamt die Organisationsform jenes Gattungswesens „Mensch“, das Friedrich Nietzsche einmal das „nicht festgestellte Thier“ genannt hat – und dies mittlerweile im globalen Maßstab. „Nicht festgestellt“ bedeutet dann zumindest, dass wir tatsächlich eine Wahl haben, insofern es dieses „Wir“ denn auch wirklich geben sollte. Die Menschheit nicht nur als Idee sondern als ganz reales Faktum beginnt also mit der Krise. Gemessen an der Erdgeschichte ist dies im Übrigen nur ein Augenblick.

Just in dem Moment also, in dem wir mit der Raumfahrt den Blick aufs Ganze unserer Biosphäre erlangt haben, in dem mit den globalen Kommunikationsnetzen eine Art gemeinsames Bewusstsein und mit den weltumspannenden Finanzmärkten und Handelsbeziehungen gegenseitige ökonomische Abhängigkeiten entstanden sind, verweigern uns Natur, Staat und Markt ihre bisher als so sicher geltenden Dienste. Lässt uns die Krise daher nur noch die Wahl, entweder eine Weltregierung und eine Weltwirtschaft zu gründen, einen Weltethos zu formulieren oder gar eine Weltreligion zu stiften, oder eben gemeinsam unterzugehen? Der holländische Frühaufklärer Spinoza schrieb einmal: „Die Natur verbietet einem nichts, außer das, was man nicht kann.“ Beschränken wir uns also lieber unseres Überlebens Willen auf das, was wir können.

Nun ist es aber gerade mit dem Können des Menschen erfahrungsgemäß keine ganz einfache Sache. Zu seinen Vermögen zählt die sinnliche Wahrnehmung, die abstrakte Vernunft oder der Alltagsverstand ebenso, wie die Fluchten in den Aberglauben, in reines Gottvertrauen oder Ideologien, die Verdrängung und Verleugnung oder die pure Fantasterei. Dabei ist die wesentlich emotionale Bestimmtheit menschlicher Handlungen, worauf jüngst die Hirnforschung – dabei ebenfalls Spinoza wiederentdeckend – deutlich hinweist, noch nicht einmal erwähnt: Neid, Gier, Missgunst, Herrschsucht, Furcht, Mitleid, Treue, Liebe. Es war an einem anderen Wendepunkt der Geschichte, an dem der italienischen Renaissance, an dem Niccolò Machiavelli das Problem des Politischen in sich selbst organisierenden und damit für sich selbst vollständig eigenverantwortlichen Gesellschaften ohne jenseitige Entschuldigungen eben in der bestimmenden Emotionalität des Menschen sah.

Unsere Emotionalität ist unsere menschliche Natur. Unser gestörtes, zersetzenden, entfremdetes Verhältnis zu dieser uns je eigenen Natur ist die eigentliche Ursache unseres selbstzerstörerischen Naturverhältnisses als Ganzem. Im Moment seiner Menschheitswerdung scheint es der moderne Mensch verlernt zu haben, seine politischen, ökonomischen und religiösen Organisationsformen so zu gestalten, dass in ihnen seine positiven emotionalen Eigenschaften zum Tragen kommen statt der negativen. So haben wir in dem Maße verlernt, gemäß unserer Natur zu sterben, in dem wir das organisierte Töten perfektioniert haben; ebenso wie wir Liebe nur noch in sublimierter, privater oder religiöser Form empfinden können. Das Mitleid begegnet uns als schlechtes Gewissen, die Treue als verzweifelte Bindung an Angst- oder Notgemeinschaften.

Das von Machiavelli erstmals aufgeworfene – wenn auch gründlich missverstandene – Problem des Politischen in der Moderne, wird damit zum Menschheitsproblem schlechthin. Plötzlich gibt es zwar einen gemeinsamen Verantwortungsraum und Zeithorizont, die gegenwärtigen politischen und ökonomischen Organisationsformen der Menschheit aber, begünstigen gerade die negativen emotionalen Eigenschaften des Menschen, ja bauen zum Teil gerade darauf auf: Neid, Gier, Missgunst, Herrschsucht, Furcht. Politisch, in dem wir Herrschaft trotz aller Reden von Demokratie immer noch nur als geführt Werden durch einige Wenige denken können. Ökonomisch, in dem wir ein umweltzerstörendes Wachstum generieren, um Menschen eine Arbeit zu geben, die sie in den seltensten Fällen mögen, damit sie sich Dinge kaufen können, die sie in den seltensten Fällen brauchen.

Nun könnte man meinen, dass gerade die Erkenntnis des Verlusts von Demokratie, der Entstaatlichung, der Naturzerstörung durch Wachstum und der Krise des Lohnarbeitsverhältnisses zur „vernünftigen“ Umkehr führen könnte. Doch deuten gerade alle Antworten, die wir noch zu geben imstande zu sein scheinen, auf das genaue Gegenteil hin. Von nichts wird zur Zeit mehr geredet, als von baldigem, erneutem Wachstum. Keiner weckt mehr Hoffnungen weltweit, als der „demokratische Führer“ Obama. Immer mehr wird mit der Lohnarbeit an etwas geradezu verzweifelt festgehalten, das zugleich immer weniger Menschen weltweit zugänglich ist. Wenn dann die ökologischen Grenzen überschritten, die politischen Illusionen zerschlagen und die Widersprüche der Arbeitsgesellschaft in noch dramatischere Zerfallsprozesse umgeschlagen sein werden, könnte aus einem kurz aufscheinenden gemeinsamen Überlebenskampf schnell ein Phase der Agonie und eines universellen Kampfes gegeneinander werden.

Insofern ist die Frage: „Welche Wahl lässt uns die Krise?“ dringend geboten und rechtzeitig gestellt. Sie lässt uns zumindest die Wahl, sofort und unmittelbar als Einzelne und in Gemeinschaft den Exodus aus den gegenwärtigen politischen und ökonomischen Organisationsformen zu vollziehen, die Demokratie einzufordern, die Produktion und den Konsum unnützer Massengüter zu unterlassen, Arbeit auch jenseits des Lohnarbeitsverhältnisses endlich auch als solche anzuerkennen und zu entlohen, das Töten zu verweigern, keine Furcht zu haben, auf unser Mitleid zu hören und wieder lieben zu lernen. Kurz: unsere Gesellschaften gemäß unserer Natur zu bauen, anstatt uns weiter dem Irrtum hinzugeben, es käme darauf an, diese und unsere Natur lediglich zu beherrschen.

Nun könnte man einwenden: absolut lächerlich! Denn wie viele lesen eigentlichen diesen Artikel und wie viele von diesen wiederum wurden dann sagen: Was nutzt dies schon, wenn die anderen sich ganz anders verhalten? Nun, so ist nun einmal das Spiel. Ein Spiel, von dem sich mindestens drei unverrückbare Regeln angeben lassen. Zunächst einmal gibt es „nichts, aus dessen Natur nicht irgendeine Wirkung folgen würde“ (Spinoza). Zum anderen besteht es darin, um wieder mit Machiavelli zu sprechen, dass, wer heute handelt, auch dafür verantwortlich ist, welche Folgen er unabhängig von seinen Absichten herbeiführt. Und schließlich setzt jedes Tun unumstößlich ein Beginnen voraus. Dass dieses Spiel dann doch nicht vielmehr als ein Endspiel für die Menschheit werden wird, kann niemand mehr seriös ausschließen. Jedenfalls hat es bereits begonnen.

Am vergangenen Wochenende hat die Bevölkerung in Deutschland, eines der produktivsten und reichsten Industrienationen der Welt, gewählt. Was stand dabei seitens der antretenden Parteien eigentlich zur Disposition? Lediglich die Art und Weise, wie in Zeiten der Krise zukünftig Beschäftigung über Wachstum und damit ein „Wohlstand“ generiert wird, der unsere natürlichen Lebensgrundlagen immer rasanter zerstört. Sie hatte also nicht wirklich eine Wahl.

Abdruck in: HUMANE WIRTSCHAFT 6/2009

Siehe auch: Robert Zion - Vom Ethos einer werdenden Menschheit

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Geschrieben von

Robert Zion

Gruenen-Politiker, Publizist

Robert Zion

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