Die irre Republik (1) Realitätsflucht

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Es gibt viele Wege, um sich als Bürger und/oder Journalist aus der politischen Realität und der eigenen Verantwortung zu flüchten. Zum Beispiel das masochistische Bejammern von Katatstrophen, das Lösungen eher verhindert als befördert (Stichworte: Ölkatatstrophe, Klimakatastrophe). Oder der Ruf nach einem Messias, der uns von allem Übel erlösen möge (Stichwort: Gauck). Oder die Flucht in ein Phänomen namens "Brot und Spiele" (Stichwort: WM). Oder das Abdriften in "Verschwörungstheorien"...

Sollte Kanzlerin Merkel tatsächlich das taktische Genie sein als das sie hin und wieder beschrieben wird, dann hat sie ihr Super-"Spar"-Paket genau richtig plaziert. Zunächst starrte alles auf die NRW-Wahl. Dann schnell mal am Wochenende relativ konzeptionslos an allen Ecken und Enden Geld zusammengekratzt, das nicht ausgegeben werden sollte. Und kaum konnte die Debatte darüber an Fahrt gewinnen, wurde sie von einem Fußball-Tsunamie in den Medien weg gespült. Sollte die deutsche Mannschaft einigermaßen solide spielen - wonach es bislang aussieht -, dürfte Medien- und Internet-Deutschland spätestens mit dem ersten Spiel in einem Cocktail aus Alkohol und körpereigenen Opiaten verdämmern. Und nach dem wochenlangen Dämmerschlaf wird man mit einem politischen Gedächtnisverlust wieder aufwachen - der den einschlägigen Interessen höchst willkommen sein wird.

Auch weniger fußballanfällige Gemüter kennen ihre Fluchten. Die Präsidentendebatte, die die Medien gerne als Ersatzdebatte für die nicht erwünschte Trauerarbeit um das Versagen der so sehr herbeigesehnten schwarz-gelben Regierung aufgegriffen haben, kann die Gehirnbereiche für Visionäres und Intellektuelles nachhaltig beschäftigen und so von dem eigentlich Notwendigen ablenken. Vor allem aber auch von der Verantwortung der Edel- und Durchschnittsfedern für das Herbeischreiben von Schwarz-Geld (Freudscher Verschreiber).

Schließlich zeigt auch das Gejammere über die Ölpest am Golf von Mexiko, wie man masochistische Ersatzbefriedigung dazu einsetzen kann, um von der Ursachenanalyse, der eigenen Verantwortung und der Lösungssuche zu flüchten. Was dort gerade passiert und in seinen möglichen verheerenden Folgen noch überhaupt nicht einschätzbar ist ( community.zeit.de/user/foxel/beitrag/2010/06/13/was-passiert-wenn-das-%C3%B6l-im-golf-von-mexiko-versiegt ; ) hätte eigentlich schon längst die Frage nach der Verantwortung der amerikanischen Wähler aufwerfen müssen. Denn gerade die, die jetzt in Florida die drohenden Verheerungen beklagen haben mit ihrer Stimme dafür gesorgt, dass die Politik erst möglich wurde, deren Folgen sie jetzt zu Recht zu tragen haben. Im Jahr 2000 hing es am Ende von ihrer Stimme ab, ob sie das Land einem Umweltpräsidenten (Al Gore) oder einem Vertreter von Öl- und Finanzindustrie (G.W.Bush) übergeben würden ( de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4sidentschaftswahl_in_den_Vereinigten_Staaten_2000 ). Sie haben so die jetzige Ölkatastrophe gewählt, wie sie bereits mit der Wahl von Ronald Reagan die Grundlage für dessen Voodoo-Ökonomie und der Weltfinanzkrise gelegt haben. Aber anstatt dies zu erkennen und daraus ihre Lehren zu ziehen, wird das ausbleibende Wunder des vermeintlich versagenden Messias Obama kritisiert. (Mediale) Verblödung und Selbstbetrug scheinen keine Grenzen zu kennen.

Auch bei uns nicht. Denn jeder, der einigermaßen richtig im Kopf war, konnte vorhersehen, dass beim mehrheitlich erwünschten Wahlergebnis "die CDU der Angela Merkel mit einer regierungsunfähigen FDP regieren muss ..", wie dies Heribert Prantl jetzt mit Verspätung öffentlich ausspricht ( www.sueddeutsche.de/politik/koalition-in-der-krise-der-schwarz-gelbe-trauerzug-1.957866 ). Auch die aktuelle Situation beschreibt er wohl durchaus korrekt: "Die FDP ist nach sieben Monaten Regierungszeit eine ertrinkende Partei. Ein Ertrinkender schlägt um sich, zieht in seiner Panik denjenigen, der neben ihm schwimmt, mit in die Tiefe."


Jetzt haben wir also genau die Bescherung, die wir uns, gehirngewaschen durch die Medien, selbst bereitet haben. Dummerweise kann Merkel sich der FDP nicht entledigen. Auch hier beschreibt Prantel die Sache wohl korrekt. "Das Problem für Merkel und die Union ist aber, dass es für sie eine andere Koalition als die mit der FDP nicht gibt: Auf eine große Koalition wird sich die SPD nicht einlassen, solange sie sich von den verheerenden Schäden der letzten großen Koalition nicht erholt hat."

Wer aber hat die SPD in die Bedeutungslosigkeit verbannt? Natürlich zunächst einmal sie selbst ( community.zeit.de/user/seriousguy/beitrag/2009/09/02/auf-den-kanzler-kommt-es-diesmal-nicht )*. Aber auch die Medien, für die es links von der Mitte traditionell keine Alternative gibt, und die es offenbar nicht für nötig hielten, über der erwünschten - scheinbar liberalen - Ideologie der FDP auch deren - gegen Null tendierenden - Sachverstand in ihren Koalitions-Kalkulationen mit zu bedenken.** Und schließlich die "Agenda"-Wähler, die offenbar allenfalls an Rache, aber nicht an die Folgen denken wollten.

Aber, anstatt nun endlich aufzuwachen und zu schauen, was da alles schief gelaufen ist und wie das Schlimmste zu verhindern sei, flüchten wir uns in Jammern, Präsidentschaftsträume und Fußballberauschung. Grund genug für mich selbst, in weiteren Beiträgen zur Methode Merkel, Präsidentschaftskandidaten und "Spar"-Paket hoffentlich hinreichend Provokantes einzustellen - sofern mein Internet-Zugang mir keine größeren Probleme bereitet......

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* siehe auch hier:
www.freitag.de/community/blogs/seriousguy47/insolvenz-die-spd-rechte--hat-es-endlich-geschafft

community.zeit.de/user/seriousguy/beitrag/2009/09/17/katze-aus-dem-sack-die-quothelmutschmidtspdquot-und-ihre-hinterla

community.zeit.de/user/seriousguy/beitrag/2009/08/30/das-telephonat-zur-wahl

community.zeit.de/user/seriousguy/beitrag/2009/08/29/sensationelle-enth%C3%BCllung-auf-zeit-online-der-sauerkrautplan

** Zur Rolle der CSU und der CDU-Rechten bei der Sabotage von Schwarz-Rot z.B.:
community.zeit.de/user/seriousguy/beitrag/2009/08/20/zuhause-bei-mama-merkel

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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