Gauck auf der Couch

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Sollte es Gründe geben, derentwegen Gauck als Bundespräsident nicht taugt, so habe ich sie bislang nicht vernommen. Ich habe mich allerdings auch nicht sonderlich dafür interessiert. Sollte ich mit meiner Einschätzung der bisherigen Argumente dennoch richtig liegen, dann folgt daraus, dass derzeit eine heftig überzogene Gauck-Debatte dem Kandidaten erst die Bedeutung verschafft, die problematisch werden könnte, sollte sich doch noch Gravierendes finden, das mit seiner Präsidentschaft nicht vereinbar wäre. Das Präsidentenamt selbst hat jedenfalls real nicht im entferntesten die Bedeutung, zu der es im Zuge der Gauck-Debatte überhöht wird.

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sehe ich spontan und ungeprüft folgende Aufgaben des Bundespräsidenten: er unterschreibt, ernennt, begnadigt (eher nicht), ist bei diversen Anlässen hoch feierlich, repräsentiert im Ausland (und öffnet dabei nebenbei Wirtschaftsbossen wieder ein paar Türen – oder auch nicht), drückt Hände und küsst Babies. Das wäre sozusagen die Pflicht. Als Kür kann er hin und wieder etwas möglichst Weg- und Richtungsweisendes sagen. Er könnte sogar die Menge verfassungswidriger Gesetze reduzieren helfen, indem er prüft (bzw. vom Verfassungsgericht prüfen lässt), bevor er unterschreibt. Er könnte gelegentlich einen provozierenden Stachel in die Mainstream-Debatten setzen. Und er könnte für die Bürger den idealen Traum einer Demokratie und eines Rechtsstaates hochhalten, der im politischen Alltag oft - und manchmal zu spektakulär - auf der Strecke zu bleiben scheint.

Oberster Notar, Gesamt-Repräsentant und Hohepriester der Zivilreligion (und Moral) also wäre der Präsident, wenn er Pflicht und Kür, die mit seinem Amt im weitesten Sinne verbunden sind, einigermaßen ordentlich in der nationalen und internationalen Arena absolviert. Was sich dagegen in der laufenden Gauck-Debatte abspielt, ist genau das, was eine von mir vermutete Mehrheit der Bürger mit dem Präsidentenamt eher nicht verbunden sehen will: Parteiengekloppe auf Jahrmarktniveau. Und das, bevor der Kandidat überhaupt gewählt ist. Und es ist zu befürchten, dass die tagespolitischen Etikettierungen und Einsortierungen eines Kandidaten, der ausdrücklich der „Tagespolitik“ enthoben sein sollte als sich selbst erfüllende Prophezeiung genau das produzieren, was sie befürchten: den schwarzen Horror-Gauck.

Gauck ist 72 und damit mit Sicherheit kein „Schüler“ im üblichen Sinne. Das schließt aber nicht aus, dass er vielleicht gar kein „Demokratielehrer“ ist, wie er angeblich genannt wurde, sondern ein Demokratie-Schüler. Das, was gegen ihn vorgebracht wird, legt dies ebenso nahe wie seine Biographie. Nach dieser wäre er, oberflächlich betrachtet, zumindest noch im Stadium des Praktikanten zu verorten, der noch lernen muss, zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu unterscheiden. Etwas tiefer geschaut, könnte man sich etwas mehr Trauerarbeit im Mitscherlichschen Sinne in Bezug auf seine DDR-Erfahrungen wünschen.

In jedem Fall aber wäre ihm das zu gewähren, was in der Schule zwar auch nicht unbedingt gewährt wird, aber, wo immer riskierbar, allererste pädagogische Pflicht sein sollte: die Chance eines periodischen Neuanfangs in Unvoreingenommenheit. Das Gegenteil ist der Fall. Wie in einem schlechten Lehrerkollegium, eilen zum Schuljahresanfang dem „Schüler“ Gauck schon Myriaden von (Vor)Urteilen, Gerüchten, Erfahrungen, Erwartungen und Prophezeiungen voraus. Er selbst bringt sein(e) Lebensskript(e) mit, die bereits „erwartete“ Rollen für die Mitspieler mitbringen. Und anstatt sich dem zu widersetzen, um nicht ständig ein von Dritten vor langer Zeit vorgegebenes Spiel zum xten Mal abzuleiern, nehmen wir alle Rollen-Angebote dankbar an und spielen munter, engagiert und bei begrenztem Einsatz des eigenen Verstandes genau das, was wir uns nicht selbst ausgewählt haben, sondern, was Dritte für uns längst vorgeschrieben haben.

Das hat nun üblicherweise seinen Sinn und macht Alltag überhaupt erst möglich. Freiheit und Aufgeklärtheit aber sehen anders aus. Und zumindest in Ausnahmesituationen kann es nötig sein, die „natürlichen“ Abläufe zu unterbrechen – dann nämlich, wenn sie kontraproduktiv scheinen – und unser Potential an Freiheit und Aufgeklärtheit zu nutzen, um zu überprüfen, was wir üblicherweise ungeprüft übernehmen. Zu erreichen ist dies aber nicht nur in diesem Fall nur auf der Basis von Unvoreingenommenheit und Offenheit. Lehnen wir das ab, dann können wir uns die Mehrkosten sparen und Wulff zurückholen.

Ich selbst bin in dieser Sache nicht unvoreingenommen – und auch nicht allzu gut informiert. Dafür geht mir aber diese Debatte ziemlich am ….. vorbei – was dann zumindest eine gewisse emotionale Distanz verschafft. In der habe ich bislang ein bisschen mitkommentiert und -debattiert. Daraus möchte ich – der Bequemlichkeit wegen – im Folgenden im Sinne des oben Gesagten noch einmal etwas zusammenstellen und es um einen Punkt (Stasikontakt) ergänzen.

Anlage

1. Zu Franz Walters Erwartung ans Amt des Bundespräsidenten:

"Gleichwohl: Es bleibt schwer vorstellbar, dass ihm Antworten oder Impulse gelingen auf die neuen sozialen Fragen in einer tief gespaltenen und von unten bis zur Mitte entkollektivierten, deutungsarmen Gesellschaft in einem von oben dekretierten, transnationalen Oligarchiesystem."

www.freitag.de/politik/1208-zu-viel-pfarrhaus-f-r-diese-republik

Das ist auch nicht wirklich seine Aufgabe. Im Kern ist er der oberste Notar der Republik, der mit gefälligen Reden sein eigenes Ego pflegen und das der "Nation" veredeln darf. Und dafür ist elitärer Protestantismus doch eine gute Voraussetzung. Dass der Bundespräsident darüber hinaus die Funktion hat, die herrschenden Verhältnisse gefällig zu verschleiern, konnte man ahnen, als in der gestrigen Gedenkveranstaltung für die Opfer des Rechtsterrors nicht er, sondern die eigentlich Verantwortliche sprechen und sich entschuldigen musste. Plötzlich fiel die seit Heuss etablierte Arbeitsteilung weg, bei der der BP honigsüße bis fruchtig-scharfe Sonntagspredigt und der Rest der Politik handfestes Gegenteil praktizierte. Sollte also Gauck nun sein Credo für den Raubtierkapitalismus verkündigen, so wäre das sogar ein Stück neue Ehrlichkeit im System. Der eigentliche Impulsgeber und Korrektur im System ist demgegenüber bislang noch einigermaßen das Bundesverfassungsgericht. Wenn dort ein Müller des legitimen Theaters etabliert wird, ist das weseentlich problematischer als alles Herumgegaucke im präsidialen Bereich. Dass SPD und Grüne inzwischen nichts mehr zu bieten haben als die Vorwegnahme dessen, was Schwarz-Gelb eigentlich im eigenen Interesse selbst tun müsste, ist schlimm. Es würde aber nichts anders sein, hätten sie eine Alternative angeboten. Die wäre gegen Gauck ohnehin nicht gewählt worden. Dass die Mehrheit der Bürger für Gaucks Ansichten sei, ist Spekulation. Man kann vermuten, dass da eher eine von den Medien gefütterte Sehnsucht nach vermeintlichem Tiefgang und vermeintlicher, altersbedingter Reife vorherrscht, was nach der Phase halbseidener, oberflächlicher "Jugendlichkeit" unter Wulff auch verständlich wäre. Und da wir nunmal eine konservative Mehrheit haben, kann diese Sehnsucht auch nur von dort bedient werden. Leider.“

[Update 26.02.2012, 18:00 Uhr]

Ein gutes Beispiel dafür, wie die tatsächlich mächtige Politik versuchen kann, Unangenehmes auf den Präsidenten abzuschieben und damit pathetisch zu kastrieren, gibt Markus Wehner in der aktuellen FAS:

"Viele in der Union, von der Kanzlerin bis hin zu Landespolitikern mit einem Hang zu Schwarz-Grün, wünschten sich Klaus Töpfer als Präsidentschaftskandidaten, weil sie ihn für geeignet hielten, brennende Probleme mit hoher Sachkenntnis anzusprechen. Der einstige Umweltminister, so heißt es, hätte die Energiewende begleiten, die Versöhnung von Wirtschaft und Ökologie thematisieren, das Verhältnis zu den Entwicklungsländern in den Blick rücken können. Die Erwartung, ein Bundespräsident müsse solche Themen besetzen, ist in der Politik weit verbreitet"

www.faz.net/aktuell/politik/inland/gauck-und-die-freiheit-risiken-und-nebenwirkungen-11662355.html

2. Zu der Sache mit der vermeintlichen Verharmlosung des Holocaust, zum Totalitarismusbegriff, zum Antikommunismus und zum engstirnigen Freiheits- und Demokratiebegriff findet sich Längeres hier:

www.freitag.de/community/blogs/seriousguy47/die-frage-nach-dem-wahren-gauck

Erneut – und diesmal kürzer – habe ich diese Stichworte in einem Kommentar angesprochen. Wie es aussieht, wurde Beitrag nebst Kommentar gelöscht. Was nun auch wieder interessant ist. Der Beitrag bezog sich kritisch auf dieses:

In der "taz" erschien am Tag nach Gaucks Nominierung ein Artikel, der behauptete, Gauck missbillige es, "wenn das Geschehen des deutschen Judenmordes in eine Einzigartigkeit überhöht wird". So unerhört sich dieser Halbsatz anhören mag, auf so unredliche Weise ist er einem Redenmanuskript Gaucks bei der Robert-Bosch-Stiftung entrissen. In der Rede über die europäische Erinnerungskultur sagte Gauck tatsächlich:

"Nur am Rande sei die Gefahr der Trivialisierung des Holocaustgedenkens erwähnt. Unübersehbar gibt es eine Tendenz der Entweltlichung des Holocaust. Das geschieht dann, wenn das Geschehen des deutschen Judenmordes in eine Einzigartigkeit überhöht wird, die letztlich dem Verstehen und der Analyse entzogen ist."

Im weiteren Verlauf der Rede wird klar, dass Gauck mit dem Halbsatz eigentlich meinte, dass es gefährlich sei, so zu tun, als könne sich ein Holocaust sowieso nie wieder ereignen und man daher gar nicht besonders erinnern, analysieren, aufarbeiten müsse - das Gegenteil einer Verharmlosung.“

www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,816601,00.html

In Firefoxens Lazarus-Speicher findet sich zu diesem Beitrag folgender Kommentar von mir (hier etwas ergänzt):

Sascha Lobo hat vollkommen recht - und Gauck hat insoweit etwas enorm Wichtiges gesagt. Etwas übrigens, das sich mit seiner Verherrlichung des Kapitalismus so gar nicht vereinbaren lässt. Lässt man einiges verbales, klerikales Brimborium weg, dann sagt er doch im Endeffekt, dass die faschistische totale Verwertungs-"Rationalität" - die im .... Beitrag hinreichend drastisch ausformuliert wird - nur die Fortsetzung der Verwertungs-"Rationalität" des Kapitalismus ist. Halt auf die letzte Spitze weiter getrieben. Was daran verharmlosend sein soll, erschließt sich mir auf Anhieb nicht.

Auch sehe ich nicht, wieso er den Holocaust nicht als Präzendenzfall sehen soll. Gerade dadurch, dass er ihn für wiederholbar hält macht er ihn doch dazu. Als eine Grenze, die, ist sie erst einmal überschritten, jederzeit wieder überschritten werden kann. Auch kritisiert er ja die quasi-religiöse "Überhöhung" gerade deshalb, weil er ihr - zu Recht - unterstellt, anstelle der schmerzhaften Analyse der Ursachen den emotionalen Kitzel des Schauer-Rituals zu setzen.

Dass er meint, als eine Ursache hinter dem Holocaust den Verlust an Gott zu sehen, mag dem pastoralen Tunnelblick geschuldet sein, der im Übrigen die schändliche Rolle mancher Geistlichkeit unterschlägt. Aber dass so eine perverse Eskalation des Kapitalismus, wie sie der Holocaust darstellt, auch mit einer Entfesselung von Recht und Moral zu tun hat, scheint mir auf der Hand zu liegen.

Der eigentliche Punkt, den Gauck in diesem Teil der Rede macht, ist doch, dass er die Reduktion des Faschismus auf "die Bestie Hitler", und das Aufblasen des Holocaust auf eine unwiederholbar einzigartige Ausnahme in Frage stellt. Und dass dies so gerne versucht wird, mag doch nicht zuletzt damit zu tun haben, dass dadurch eine Menge Beteiligter [und geistiger Nachfolger] sich das Gefühl einer Entschuldung bescheren können.

Problematisch wird es eher da, wo er zumindest die Interpretation zulässt, er setze Zustände wie in der DDR mit den Zuständen im Nazi-"Reich" gleich. Da wird es dann de facto zur Verharmlosung. Allerdings einer, die auch ich selbst hin und wieder aus Gründen der Polemik betreibe....

Insgesamt möchte ich zur Gauck-Debatte sagen, dass mir die Methode "Ich hab da ein Vor-Urteil und such jetzt mal passende Zitate dazu" nicht zielführend scheint. Man sollte bei der Gauck-Lektüre zunächst einmal die Spiegelneuronen einschalten und danach den kritischen Verstand. Sonst erreicht man dass Gegenteil von Aufklärung.

Das gilt dann z.B. auch für solches:

iknews.de/wp-content/uploads/2012/02/Die-Welt_Nr.94_23.04.1991_Seite-8.jpg

3. Zur Frage des Stasikontaktes:

Ich bin zwar kein Opfer des DDR-Regimes. Mit den Zuständen in Baden-Württemberg, Bayern und weitgehend der BRD insgesamt fühle ich mich auch hinreichend bedient. Wer es aber jemals mit einer autoritären und wenig rechts-affinen Bürokratie zu tun und dabei Verantwortung für andere Menschen gehabt hat, dürfte in dem oben verlinkten Stasiprotokoll nichts finden, was nicht nachvollziehbar oder gar verdächtig sein könnte. Auf solcher Basis gegen Gauck zu polemisieren scheint mir arg selbstgerecht und pharisäerhaft. Eine wesentlich angebrachtere Frage wäre, ob es – angesichts seiner offenbar doch recht privilegierten Rolle im System – nicht ein bisschen wohlfeil ist, sich gegenüber seinen ehemaligen Mitbürgern als besonderen Freiheitshelden zu stilisieren. Womit ich wieder bei der Couch wäre. Und den Bedingungen, unter denen sie überhaupt nur funktionieren kann.

Medienmaterial, das mir wichtig scheint:

www.zeit.de/2010/24/Joachim-Gauck/komplettansicht

www.sueddeutsche.de/politik/2.220/interview-mit-joachim-gauck-mutige-politiker-ziehe-ich-vor-1.1006223

www.sueddeutsche.de/politik/2.220/interview-mit-joachim-gauck-warum-ueberlassen-wir-den-stolz-den-bekloppten-1.1006716

www.bosch-stiftung.de/content/language1/downloads/Stiftungsvortrag_Gauck_fuer_Internet.pdf

iknews.de/wp-content/uploads/2012/02/Die-Welt_Nr.94_23.04.1991_Seite-8.jpg

www.nachdenkseiten.de/?p=12321#h01

www.nachdenkseiten.de/?p=12329#h01

www.nachdenkseiten.de/?p=12338

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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