S21. Danach: Wie liegt die Stadt so wüst

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Wie liegt die Stadt so wüst, die voll Volks war! ..... Sie weint des Nachts, daß ihr die Tränen über die Wangen laufen; es ist niemand unter allen ihren Freunden, der sie tröstet; alle ihre Nächsten sind ihr untreu und ihre Feinde geworden.….. Die Straßen ….. liegen wüst; ….. alle ihre Tore stehen öde......Ihre Widersacher schweben empor, ihren Feinden geht's wohl.....Es ist ….. aller Schmuck dahin. ..... [Sie] denkt in dieser Zeit, wie elend und verlassen sie ist und wie viel Gutes sie von alters her gehabt hat, weil all ihr Volk darniederliegt unter dem Feinde und ihr niemand hilft; ihre Feinde sehen ihre Lust an ihr und spotten ihrer Sabbate. ...... Ihr Unflat klebt an ihrem Saum; sie hätte nicht gemeint, daß es ihr zuletzt so gehen würde. Sie ist ja zu greulich heruntergestoßen und hat dazu niemand, der sie tröstet. ….. Der Feind hat seine Hand an alle ihre Kleinode gelegt; denn sie mußte zusehen, daß die Heiden in ihr Heiligtum gingen, von denen du geboten hast, sie sollen nicht in die Gemeinde kommen. .....denn der HERR hat mich voll Jammers gemacht am Tage seines grimmigen Zorns.......er hat mich zur Wüste gemacht, daß ich täglich trauern muß. ..... Ich rief meine Freunde an, aber sie haben mich betrogen.….. So laß doch den Tag kommen, den du ausrufest, daß es ihnen gehen soll wie mir. Laß alle ihre Bosheit vor dich kommen und richte sie zu, wie du mich um aller meiner Missetat willen zugerichtet hast; denn meines Seufzens ist viel, und mein Herz ist betrübt. .....“ (Klagelieder - Kapitel 1)

www.bibel-online.net/text/luther_1912/klagelieder/1/

www.youtube.com/watch?feature=player_detailpage&;v=pPLlVkAP1Sw

Am schlimmsten schien mir zunächst das Schweigen. Am allerschlimmsten, wenn es auch noch wortreich daherkam. Dies wurde vermeldet:

..dpa: Polizei räumt Schlossgarten für Stuttgart-21-Baustelle. dpa: Stuttgart-21-Projektsprecher froh über friedlichen Verlauf. dapd: Polizei räumt letzte Bastion der “Parkschützer”. Welt: Tausende Polizisten räumen Stuttgart-21-Protestcamp. Stern: Schlossgarten ist weitgehend geräumt. Standard: Stuttgart 21. Deutsche Polizei räumte Schlossgarten für Baustelle. Der Bund: Stuttgarter Polizei jagt Aktivisten aus dem Park.....

www.bei-abriss-aufstand.de/2012/02/15/medienberichte-15-2/

Das haben sie zu sagen zur schlimmsten kulturellen Barbarei seit der Bücherverbrennung. Mehr fällt den leeren Schwätzerhirnen nicht ein. „Action“, wahlweise auch deren Ausbleiben, das ist alles, was für sie existiert. Das ist das Schlimme: Niemand begreift.

Radio SWR vermeldet jubilierend: „Schlossgarten geräumt. Jetzt fallen die Bäume.“ Und Passanten lässt man sagen: Isch halt so (18-Uhr-Nachrichten SWR2). In der Tagesschau lässt der SWR eine bewährte S21-Kampf-Matrone aus dem Off markig das Gefilmte „einordnen“. Nur eine Kleinigkeit fehlte. Liszts Les Préludes war wohl gerade nicht greifbar.

Michael Gerster von den sogenannten Stuttgarter Nachrichten braucht das auch gar nicht. Er schafft es rein verbal:

Der Arm der Spezialmaschine senkt sich, greift mit dem oberen Teil den Stamm, von unten setzt die Säge an. Rummm, die Maschine heult auf, Späne fliegen, der Baum vor dem Planetarium ist ab. Der Greifer schwenkt nach links, lädt seine Beute beim Häcksler ab. Innerhalb von Sekunden ist der Baum zu Spänen verarbeitet.....Ein paar Meter weiter geht die Sägemaschine unerbittlich ihrer Arbeit nach. Rummm. Der nächste Baum wandert in den Häcksler.“

www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.stuttgart-21-bahn-legt-beim-baumfaellen-beachtliches-tempo-vor.b57d6ed3-a91f-4e80-b88d-bcaa53071560.html

So klingt Gewalt. Primitivste Gewalt. Und in Kommentaren hallt sie wieder:

Tempo

je schneller deto besser!!

Es freut mich dieses zuhören

Es freut mich zu hören, dass der Umbau unseres Bahnhofs nach den langen unsinnigen Verzögerungen jetzt endlich zügig in Gang kommt. Macht nur tapfer weiter, die große kontruktive und an einer aktiven und mutigen Gestaltung unserer Zukunft interessierte Mehrheit im Land steht hinter euch!

Neue Perspektiven

Der Artikel hat es sehr schön beschrieben: Die Verlagerung der alten Bäume schafft neue Blickbeziehungen, mehr Licht und Freiraum - ein ungewohntes, aufgeräumtes Schlossgarten-Gefühl, das viele Stuttgarter schon bald nicht mehr missen mögen werden. Manches, was zunächst Überwindung kostet und vielleicht sogar schmerzhaft scheint, wandelt sich alsbald zu einem Befreiungsschlag, der das Begehen positiver neuer Wege ermöglicht.==========Hätten unsere Vorfahren auch so hinterwäldlerisch gedacht wie mancher "Parkschützer", würden wir vielleicht häute noch auf jenen Bäumen sitzen, die nun grade unserer Zukunft Platz machen. Mancher S21-Gegner wird in einigen Jahren ungläubig-entsetztes Kopfschütteln bei seinen Kindern und Enkeln ernten, wenn er erzählt, dass hier dereinst ein riesiger hässlicher Gebäuderiegel und ein Baumverhau den Blick ins Weite verstellt haben.

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Endlich

Ja warum jetzt noch groß Zeit verlieren, Zeit ist Geld und die Bauarbeiten wurden wahrlich lange genug aufgehalten!!! Hab die Kettensägen heut an Bahnhof gehört....das war Musik. Jetzt wird der Demokratrie endlich zum Recht verholfen, die Gegner wollten die Volksabstimmung und haben sie bekommen und mit einem Schlag ins Gesicht verloren jetzt ist es Zeit der Mehrheit ihr Recht zu kommen zu lassen und S21 zu Bauen!!

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Das ultimative S21 Gedachte ins keintogische Gemächt

Eine fast schon lyrische Beschreibung der längst fälligen Aufräumarbeit. Ein Gedicht! Rethorisch erste Sahne! Ironie wie Zynismus und Augenzwinkern erkennt man bereits in den ersten Worten und Sätzen. Was sich gottseidank bis zum Schlusspunkt durchschlängelt. Danke Michael Gerster dass Sie mir noch kurz vorm Schlafengehn ein Lächeln ins Gesicht gezaubert haben! Keintology wird Sie verfluchen, und ich mich über die Eingebungen der Verbohrten halbtotlachen. Hoffentlich kommt das in der Printausgabe, oder zumindest im Sonntag Aktuell, ich bitte darum!

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www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.stuttgart-21-bahn-legt-beim-baumfaellen-beachtliches-tempo-vor.b57d6ed3-a91f-4e80-b88d-bcaa53071560.html [Hinweis: „Keintology“ ist eine Bezeichnung der Technikfaschisten für S21-Gegner. Soweit der Horizont der Tunnel-Bimmelbahn-Anhänger halt reicht....]

Das Herz – ganz Nüchternere sagen: die Lunge – einer Stadt wird in einem Akt kalter, gnadenloser Barbarei vernichtet und ein von virtuellen „Welten“ überfressener und verblödeter Journalismus hat nichts weiter anzubieten als eine Sportberichterstattung, die sich in der Adresse vertan hat. Bäume? Gott, mach doch den Fernseher an. Da gibt es ganze Urwälder zum Glotzen! Oder geh ins Internet. Da kannst du sie dir sogar selbst aussuchen und zusammenstellen! Wer braucht denn so was heute noch in der Stadt? Und wenn's dir zu viel wird, nimm die Fernbedienung und zapp dich weg. Machen wir doch auch ständig. Mit dem, was unseren Zuhältern nicht in den Kram passt.

Mörike ging schon unter diesen Bäumen spazieren? Schrieb dort womöglich Gedichte? Mörike kenn' ich nicht. Nur Möhrrübe. Oder war es Mohrrübe? Egal. Überhaupt, was soll dieser ganze Kulturscheiß. Wenn ich Kultur brauche, geh ich zu den Flatrate-Nutten und lass' mich gepflegt bedienen. Und dann heim zum weiblichen Haustier. Und Augen zu und Pflicht-Kinder zeugen für Deutschland.

Dass im Schlossgarten täglich tausende von Menschen hindurchgingen und im Sommer Schutz vor der unerträglichen Hitze der Stadt fanden? Dass dort Kinder in den Brunnen plantschten? Junge Leute mit Fußbällen oder Frisbee-Scheiben spielten? Andere auf Seilen zwischen den Bäumen balancierten? Singles und Paare auf dem Rasen lagen? Mit und ohne Buch, respektive Ohrbeglücker. Ältere auf den Bänken saßen? Dass der mittlere Schlossgarten DER Platz im Zentrum der Stadt war, wo das LEBEN war?

Kenn ich nicht. Interessiert mich nicht. Sind doch alles bloß Leute. Wer wirklich zahlt … äh … zählt, lässt so was vom Chauffeur weiträumig umfahren oder fliegt im Helikopter darüber hinweg! So was braucht allenfalls das Gesocks von unten. Und das ist sowieso bloß eine asoziale Pest, die ständig dem FORTSCHRITT im Weg steht.

Außerdem soll dieses Pack in der Stadt nicht herum liegen, sondern konsumieren. Weniger Park heißt mehr Kundschaft in den neuen Einkaufstempeln. Da gehört es hin das Pack. Dort gibt es auch einen gepflegten Springbrunnen. Und dort kann man auch sitzen, wenn man etwas bestellt. Dort sollen sie gefälligst das Geld ausgeben, das sie den Arbeitgebern ständig abpressen. Schaut doch den ausgemergelten Hundt an, der vor lauter Lohnerhöhungen nicht mehr weiß, wie er sich selbst und seine Familie ernähren soll! Oder der Leibinger, der Stihl, der Würth und wie sie alle heißen, die bedauernswerten Wesen, denen das Geld gerade mal noch zum Erwerb von ein bisschen Kunst oder dem Zerstören der Stuttgarter Bach-Akademie reicht.

Nein, das Pack gehört in die Einkaufstempel gejagt. Und wir drucken die Werbung dazu. So haben alle was davon, die zählen. Alternativen darf es nicht mehr geben. Das Leben kostenlos genießen? Und auch noch in der Natur? Und das auch noch auf den teuersten Grundstücken der Innenstadt? Das wäre ja nochmal schöner. Dazu ist man doch nicht auf der Welt! Der Zweck des Leben ist das Mehren des Profits – der Anderen. Jetzt ist Schluss mit Romantik und Juchtenkäfer. Jetzt kommt das Geld! Metropolis! Erhardts Formierte Gesellschaft! Jetzt geht’s endlich wieder voran! Für die Herrschafts- und Ausbeuterkaste.

Und an den Wochenenden könnt ihr euch dann in den Stadien ausgröhlen. Bringt Geld für Hundts VfB. Und einmal im Jahr könnt ihr karnevalistisch in Alkohol, Kotze und Sperma baden. Hilft der Getränke- und Präserbranche. Da habt ihr dann euren Spaß! Und zu Weihnachten könnt ihr besinnlich sein. Wenn ihr vorher brav eingekauft habt. Und ansonsten besauft euch vor dem Fernseher bei der „Volksmusik“, die wir für euch zusammengebraut haben.

Und wenn euch das nicht reicht, dann geht ins Theater zu eurem Volker Lösch. Dort ist seine zertifizierte Spielwiese. Da gehört er hin. Und die Querulanten auch, denen unser toller VfB, unser superlustiger Karneval und unsere perfekt gestylte Volksmusik nicht gut genug sind. Hauptsache, aus dem Theater dringt nichts nach Draußen. Jedenfalls nicht zu irgendwelchen Menschen in irgendeinem Park.

Aber keine Sorge. Die Nazi-Greise, die den Peymann, den Rilling, den Bonatzbau, den Schlossgarten usw. wegzuekeln verstanden, werden einen Lösch allemal schaffen. Dann ist wieder Friedhofsruhe im Land. Die Ruhe, die diese Typen und ihre politischen Lakaien am liebsten haben und auf die sie sich am besten verstehen. Und für den Rest sorgt die neue Polizei in schwarzer Traditionstracht. Und die eingebettete Presse ist dort, wo es gerade nichts zu sehen gibt. Dazu holt man sie ja ins Bett.

Und der falsche Moses Kretschmann wird das Goldene Kalb schon mästen. Wer Grüne Umweltpolitik besichtigen will, komme zum mittleren Schlossgarten in Stuttgart. Da könnt ihr sehen wie sie ganz real aussieht. Und geschützt wird. Aber passt auf: kommt der Soldateska dort nicht zu nahe. Die wollen garantiert NICHT spielen! Hab's gerade mal wieder selbst erlebt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

seriousguy47

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