S21: Ein Film sagt mehr als tausend Worte

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Noch ist das Internet weitgehend ein Hort der Freiheit. Im Guten wie im Schlechten. In diesem Fall ist es offenbar ein Vorteil, dass Politik der Wirklichkeit hechelnd hinterher hinkt und die wirtschaftlichen Interessen sich offenbar noch nicht so recht organisiert haben. Und so ist die Öffentlichkeit in diesem Bereich NOCH nicht enteignet und zum Zwecke der Profitmaximierung und Informationskontrolle privatisiert. Und es ist wohl auch allgemein anerkannt, dass dies den Freiheitsbewegungen derzeit nützt.

Es nützt auch dem Widerstand in Stuttgart, wo die Vernetzung dicht und teilweise hoch professionell ist. Wie elementar dies ist, zeigte sich bereits am Schwarzen Donnerstag, wo die staatlich-wirtschaftliche Desinformationsmaschinerie von der Gegenöffentlichkeit des Internets vollkommen überrascht wurde und ins Stottern geriet. Ich denke schon, dass der Stuttgarter Widerstand heute zumindest als eine Horde von Steinewerfern dastehen würde, und die schwerverletzten Opfer selbstverständlich selbst als verantwortlich für ihre Verletzungen gelten würden, wäre das Internet nicht mit Gegeninformationen geflutet worden. Die offiziellen Medien hätten zwar entsetzt die Polizeigewalt dokumentiert, aber die anschließende Desinformationskampagne von Regierung und Bahn nicht unbedingt groß nachrecherchiert.

Der „Schlichterspruch“ des Heiner Geißler hätte verheerend gewirkt, hätten nicht Millionen am TV-Gerät oder PC selbst die Fakten betrachten und bewerten können. Jeder, der auch nur einen Teil dieser „Schlichtung“ verfolgt hatte, konnte auf das Schlussplädoyer des Herrn Geißler nur mit blankem Unverständnis oder mit Empörung reagieren – es sei denn, er gehörte der S21-Sekte an. Und, wer den Untersuchungsausschuss zum Schwarzen Donnerstag verfolgte konnte diesen, angesichts der übers Internet bekannt gewordenen Tatsachen, streckenweise nur noch als absurdes Theater empfinden, in dem vorwiegend alte, der Welt schon abhanden gekommene Männer zum letzten Mal ihre sinnentleerten und teilweise abartigen Politrituale abspulten.

Die Sache mit der Baustellenbesetzung am 20.06.2011 ist diffiziler, denn dort scheint aus bürgerlicher Sicht ein Tabubruch passiert zu sein. Es wurde fremdes Eigentum beschädigt und es wurden Polizisten verletzt. Auch das wurde im Internet dokumentiert – womit die Gegenöffentlichkeit gleichzeitig ungewollt bewies, dass sie insgesamt ganz selbstverständlich lauterer und unaufbereiteter informiert als die offizielle Berichterstattung.

Ich habe aber nicht die Absicht, hier nun eine „Gewalt“-Debatte zu initiieren. Das tun andere. Die umfängliche Einleitung soll vielmehr hinführen zu einer ca. 6stündigen Dokumentation dieses Abends am Stuttgarter Schlossgarten, zu einer mitgeschnittenen entspannten Unterhaltung mit Polizisten vor Ort zwei Tage danach und schließlich zu Mitschnitten der zweiten Stuttgarter Bürgerversammlung, bei der sich diesmal ebenfalls am 22.06.2011 Verkehrsminister Hermann den Bürgern, ihren Pfiffen, ihrem Beifall, ihrer Unterstützung und ihrer Opposition stellte.

Dass letzteres bundesweit eher nicht medial verbreitet wird, ist schon erstaunlich und offenbart wohl ein Stück weit journalistische Arroganz, die es für nicht beachtenswert hält, wenn Politiker direkt mit den Bürgern kommunizieren, ohne diese Kommunikation journalistisch segnen und veredeln zu lassen. Pfui, das ist primitiv. Das tut man nicht.

Das Gespräch mit der Polizei im zweiten Video scheint mir ein bemerkenswertes Dokument, das keinem Journalisten in die Hände fallen darf. Sonst würde es Menschenopfer geben. Es könnte aber in seiner unverstellten Menschlichkeit gerade jetzt dazu dienen, den empörten Stuttgarter Bürgern deutlich werden zu lassen, dass die Polizisten – egal, ob sie persönlich Verständnis für den Widerstand haben oder nicht – genauso verheizt werden wie die Bürger. Es ist Teil ihres Jobs, aber ich glaube nicht, dass die Mehrheit diesen Job gewählt hat, um Grubes Zwang zur Kapitalvernichtung, Profitinteressen von Bau- und Immobilienwirtschaft und den Größenwahn von Politikern und anderen durchzuprügeln. Sie sind einfach in der dummen Situation, durchsetzen zu müssen, was offenbar formal korrekt „demokratisch legitimiert“ und „juristisch bestätigt“ wurde. „Haut ab!“ war im Schock des 30.09.2010 verständlich. Am 20.06.2011 war es menschlich unanständig. Gegenüber vielen anständigen Polizisten am 30.09. im Übrigen auch. Ich habe diese Anständigkeit schon damals erwähnt und ich tue es heute nochmals.

Es gibt in Konfliktsituationen per definitionem keine Interessenidentität zwischen Widerstand und Polizei. Aber man kann auch Konflikte mit gegenseitigem Respekt austragen, wenn beide Seiten dazu bereit sind. Deshalb sollten beide Seiten sich nicht von anderen verhetzen lassen. Und vielleicht hilft das genannte Video beim einen oder anderen, die Emotionen etwas zu entgiften.

Schließlich das erste Video, das den Abend des 20.06.2011 über 6 Stunden hinweg aus subjektiver, eher zufälliger Perspektive dokumentiert. Ich hänge mich jetzt weit aus dem Fenster, aber ich finde es großartig – weil es Großartigkeit gar nicht erst anstrebt. Und es enthält alles Wesentliche, was man zu diesem Abend wissen muss: Das Herumfummeln an den Geräten, die Unmöglichkeit, Online zu kommen, das Durchwühlen durch die Menge, spontane Kommentare des Filmers. Und keinerlei Regie, Schnitt oder Zensur. Der Zuschauer erlebt den ganzen Abend quasi durch die Augen und Ohren des Filmers. Er bekommt nicht mit, was der Filmer nicht mitbekommt. Und er bekommt mit, was in offiziellen Medien tunlichst herausgeschnitten würde. Und er erlebt mit, was geschieht. Und er erduldet, wenn endlos lange nichts geschieht. Und er mag schließlich über die Kommentare auch mitbekommen, was mir persönlich an den Stuttgartern so gefällt: sie sind in der Regel einfach NETT.

Und nun endlich die Links:

20.06.11- HanSolo's day! 19:32~00:46 uncut Violence? …

bambuser.com/v/1759086

Two days after (Gespräch mit Polizisten)

bambuser.com/v/1761215

Bürgerversammlung 22.6.2011

Version fluegel.tv (Sehr gute Qualität)

vimeo.com/25468080

Mehr Videos bei Cams21:

www.cams21.de/

Mehr Videos bei fluegel.tv:

www.fluegel.tv/index.php?article_id=169

Dazu noch ein paar ergänzende Texte:

www.taz.de/1/debatte/kommentar/artikel/1/vermittelbar-bleiben/

www.bei-abriss-aufstand.de/2011/06/23/gewalt/

www.taz.de/1/zukunft/schwerpunkt-stuttgart-21/artikel/1/verkehrsminister-im-stresstest/

www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.volksversammlung-in-stuttgart-zwischen-appellen-und-aergernissen.55f35bbe-2456-46ad-b13b-202555462e7d.html

www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.innenminister-gall-polizisten-sollen-gekennzeichnet-werden.22b2c585-2d03-4626-9e4b-874ece59ba98.html

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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