Stuttgart 21: Was nun? Ein paar Querbeet-Gedanken

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Also: ich habe nach der Volksabstimmung sehr gut geschlafen – und damit offenbar etwas gemeinsam mit Winfried Kretschmann und Winne Hermann. Das dürfte dann aber auch so ziemlich alles sein, was ich mit den beiden (noch) gemeinsam habe. Von Herrn Özdemir mal ganz zu schweigen, der mal wieder sein exzellentes Gespür für die ideale Kombination von Timing und Fettnapf unter Beweis stellte, als er meinte, jetzt auch mal Geißler spielen zu müssen. („Irgendwas mach' ich mal, irgendwann, und dann, dann komm' ich ganz groß, ganz groß raus. ....“). Denkste.

www.youtube.com/watch?v=GMJlsQjLnTg

Und so bin ich dann gestern Abend auch sehr entspannt *) zur ersten Montagsdemo nach der Volksabstimmungsfarce gegangen. Wie immer verspätet, aber rechtzeitig genug, um jene Phase von Pfarrer Schobels Rede mitzubekommen, die für mich fast schon nach Sterbebegleitung klang. Es war aber als Trost und Seelenaufbau gedacht und er hat das auch hinreichend deutlich gemacht.

www.freitag.de/community/blogs/mcmac/101-montagsdemo-in-stuttgart

Vielleicht wäre es zu diesem Zeitpunkt tröstlich, wenngleich etwas überhöhend, gewesen, daran zu erinnern, dass die immer wieder zu machende Erfahrung des Stuttgarter Widerstandes nichts wirklich Neues unter der Sonne ist:

www.youtube.com/watch?v=BwY2x1qyVsE&;feature=related

[„Jerusalem, die du tötest die Propheten, die du steinigst, die zu dir gesandt.
Wie oft hab ich nicht deine Kinder versammeln wollen, aber ihr habt nicht gewollt!"

www.youtube.com/watch?v=BqzOPUU1IlI&;feature=results_video&playnext=1&list=PL3F8150B671FA8296]

Dummerweise habe ich mich dann zu ausgiebig mit meiner Nachbarin unterhalten und deshalb jetzt nicht wirklich mitbekommen, wie es mit den Montagsdemos weitergehen soll. Ganz übel wäre es aus meiner Sicht, würden sie eingestellt. Das wäre wohl das Ende des breiten bürgerlichen Widerstands. Klar scheint: die Mahnwache am Nordflügel macht weiter. Das versicherte mir einer der dort Engagierten. Ohne Montagsdemos haben aber wohl weder Mahnwache noch Widerstandscamp eine Zukunft. Die Vorstellung, es genüge, im Notfall schnell eine wirkungsvolle Gegenaktion mobilisieren, hat sich bereits am 30.9.2010 erledigt. Die Menschen waren zwar irgendwann einmal zahlreich da, aber es war nicht hinreichend wirkungsvoll. Und der Hohn der herrschenden Kaste: „Die saßen auf den falschen Bäumen“, sollte eigentlich unvergessen sein, selbst wenn es wohl nur eine faule Ausrede war, die davon ablenken sollte, dass man das eigentliche Ziel der Totalabholzung nicht erreichte. Wäre dies nämlich nicht das Ziel gewesen, so wären mindestens 60 Prozent der Polizeiaktionen sinnlos und unnötig gewesen, denn sie richteten sich genau auf den Bereich des Schlossgartens, der am Ende verschont blieb und heute becampt wird.

Die Montagsdemo scheint mir demgegenüber DAS entscheidende Ritual zu sein, das den Widerstand zusammenhält, informiert und ihm jede Woche neu die nötige Selbstvergewisserung gibt. Und das dem Rest der Republik signalisiert: wir sind da und wir sind stur. Nicht die führenden Köpfe und Organisatoren sollten deshalb über die Weiterführung entscheiden, sondern die Basis durch ihre An- oder Abwesenheit.

Eine andere Frage ist, wie diese Demos in Zukunft ablaufen sollten. Und das ist eine Frage der gegenwärtigen Situation, der Restkraft der Organisatoren und der Kosten. Mir schiene es erwägenswert, ob aus den Demos bzw. (Wahl-)Kampfveranstaltungen nicht Bürger-Versammlungen werden sollten, was von mir inhaltlich und nicht als Verbalspielerei gemeint ist. Der Widerstand in seiner ganzen Breite braucht die wichtigen Informationen zur Lage an allen Fronten nicht nur virtuell im Internet, sondern auch real und in Tuchfühlung mit anderen. Musik, Propaganda und Ähnliches sind inzwischen relativ überflüssig. Zentral aber sind die Informationen der Juristen, Architekten, Ingenieure, Parteienvertreter, Bahnexperten usw. über das, was sie aktuell tun und über die Fortschritte oder Rückschläge dabei.

Eine große Chance, die natürlich auch Risiken in sich birgt, bietet sich, nach dem Rückzug der grünen Führung aus dem Widerstand, fder Linken, die, wenn sie dazu bereit und fähig ist, nun eine zentrale Rolle in einer bürgerlichen Widerstandsbewegung übernehmen kann. Ihre tragische Rolle als Schmuddelkind der hiesigen Politik wird sie dabei kaum ablegen, aber vielleicht abbauen können – wenn sie Pragmatismus und Vision gleichermaßen einbringen kann und leerem Verbalradikalismus abschwört. Sagen wir es mal so: eine intellektuelle Führungrolle ist im Moment wohl sehr gefragt im bürgerlichen Widerstand. Und die braucht langfristig – zumindest ergänzend - eine Partei. Ehrenamtliche können die erforderliche Kontinuität nicht leisten. Schon gar nicht, wenn sie Beruf und Familie haben. Engagement ohne Struktur frisst Menschen auf.

Und damit ist indirekt auch schon signalisiert, dass ich volles Verständnis für die habe, die irgendwann mal für sich entscheiden, dass jetzt Rückzug angesagt ist. Menschliche Opfer jenseits einer bestimmten Schwelle ist kein Bahnhof wert. Schon gar nicht, wenn man dabei Idioten vor sich selbst schützen muss – die sich dabei auch noch mit allerlei schmutzigen, gemeinen und gefährlichen Tricks dagegen wehren, dass man sie vor Unheil bewahren will.

Etwas anders – weil systembedingt - ist der Rückzug der grünen Führung zu werten. Es muss einfach klar sein, dass die jetzt in einer anderen Mannschaft spielen. Sonst ist unser Regierungssystem – insbesondere Rechtsstaat und Gewaltenteilung - kaputt. Es ist jetzt wohl an der Zeit, sich im Widerstand die Frage zu stellen, ob man sich als einigermaßen beliebige Bürgerinitiative zu einem bestimmten Thema versteht oder als Fünfte Gewalt auf Zeit im System der Gewaltenteilung. Letzteres würde es möglich machen, sich von der grünen Führung in freundschaftlichem Einvernehmen und ohne Rosenkrieg zu trennen – vergesst Özdemir, der zählt ohnehin nicht! - und selbst eine neue Rolle, eben die einer Fünften, kontrollierenden Gewalt, einzunehmen.

Das würde nach sich ziehen, dass man diese Kontrollfunktion in allen Bereichen wahrnimmt, wo der Rechtsstaat Möglichkeiten eröffnet und diese Arbeit in den Montagsversammlungen bespricht und beurteilt. Und es würde zweitens bedeuten, dass man sich z.B. mit dem Widerstand in Gorleben ohne Wenn und Aber kontinuierlich austauscht, dauerhaft vernetzt und darauf verständigt, dass man in derselben Mannschaft, zumindest aber in derselben Liga spielt. Auch dort ist Fünfte Gewalt. Und die ist hier wie dort zwingend nötig, weil Regierung/Verwaltung, Parlament, Justiz und Medien, gefangen in der gegenseitigen Verfilzung, total versagen.

Grundlegend ist aber, dass der Widerstand sich jetzt vollkommen aus der Definitionsmacht der herrschenden Kaste befreit. Wir haben uns viel zu sehr und viel zu lange auf Auseinandersetzungen und Verfahren eingelassen, die vom Gegner definiert und vorgegeben waren: Schlichtungsbetrug, eine Landtagswahl, die keine war, weil bei jeder Option eine Tunnelpartei als Brechmittel beilag und schließlich eine „Volksabstimmung“, deren Ergebnis zwar zu respektieren ist, der aber nicht mehr Bedeutung im Gesamtkomplex zukommt als jede beliebige Sitzblockade oder Demo. Die Mehrheit will, dass die Regierung mit der Mischfinanzierung Verfassung Verfassung sein lässt. So what. Geht mir am Ende genauso am Arsch vorbei, wie wenn ich ein Sonderangebot beim ALDI verschlafe. Und wenn die Befürworter jetzt meinen, damit seien Demos nicht mehr legitim, dann fallen sie lediglich auf das Niveau derer zurück, die meinen, eine Demo am Bahnhof sei nur nach vorherigem Kauf einer Bahnsteig- respektive Fahrkarte zulässig. Eigentlich ist es doch eher umgekehrt: eine Demo gegen ein durch und durch verfilztes und kaputtes System wird erst dann wirklich zu einer Demo, wenn sie vom System nicht als zulässig betrachtet wird. Sonst ist es nicht mehr als eine belanglose Spielerei.

Womit ich wieder bei den Montagsversammlungen wäre, für die sich jetzt natürlich eine Weihnachtspause empfehlen würde, damit wir zum Fest alle ungestört im Kreise von Familie , Blockflöte und Gammelputer vor Gemütlichkeit frieren können.....

www.youtube.com/watch?v=unPCUkNSDbA

Und zum Schluss noch eine ganz persönliche Bemerkung, die hoffentlich manches erklärt:

www.youtube.com/watch?v=Kq33i0MW1Ro&;feature=related

*)

Nachdem ich mir nun auch gestattet habe, mich wegen der hiermit verbundenen – genauer gesagt: von mir so wahrgenommenen - Dauerdemütigung durch die FREITAG-Redaktion aus dem schreibenden Tageskampf um S21 zurückzuziehen, ist mein Leben insgesamt auch deutlich entspannter. [Anmerkung: Besonders schön finde ich es, wie die Redaktion sehr subtil versucht, einen emotionalen Keil zwischen die S21-Schreiber hier zu treiben. Nach dem Motto: Die Guten ins Töpfchen, den Schlechten ins Tönnchen.]

www.golyr.de/franz-josef-degenhardt/songtext-fuer-wen-ich-singe-629999.html

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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