Das Interesse des marokkanischen, in Frankreich lebenden und auf Französisch schreibenden Schriftstellers Tahar Ben Jelloun gilt dem Fremden. Dabei ist für ihn der "Fremde" nicht nur der Ausländer, wie in seinem zuletzt erschienen Buch gegen den Rassismus (Papa, was ist ein Fremder?), sondern ebenso der von der Gesellschaft ausgestoßene, der Außenseiter. Da fast alle seine Bücher in Marokko spielen, fristen viele seiner Protagonisten ein von der Gesellschaft mehr oder weniger geduldetes Leben in marokkanischen Städten. In Der Gedächtnisbaum ist es der Verrückte, der auf öffentlichen Plätzen Geschichten erzählt, in Harrouda die Hure, die von den Leuten geächtet wird, und in Der korrumpierte Mann jener marokkanische Verwaltungs
Kultur : Fremd im eigenen Land
In seinem Roman "Zina oder Die Nacht des Irrtums" demonstriert der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun die Macht des Erzählens
Von
Fokke Joel
nn jener marokkanische Verwaltungsbeamte, der von allen geschnitten wird, weil er sich seiner korrupten Umgebung entgegenzustellen versucht. Der Prozess, in dem Ben Jellouns Figuren dabei Gestalt annehmen, ist sehr komplex. Die traditionellen marokkanischen Geschichtenerzähler haben ihn zu dem Kunstgriff der widerstreitenden Erzähler inspiriert, die sich bereits in Die Nacht der Unschuld, für die er den Prix Goncourt erhielt, darüber stritten, wie es wirklich war.Die unterschiedlichen Perspektiven, aus der er das Geschehene erzählt, führen zu einem erzählerischen Patchwork, in dem es manchmal nicht einfach ist, den Überblick zu behalten. Das gilt auch für Zina oder Die Nacht des Irrtums, dem letzten auf Deutsch erschienen Roman des Autors, der in der Diskussion um Papa, was ist ein Fremder ein wenig untergegangen ist. Hier berichtet nicht nur ein Erzähler-Ehepaar von der Heldin, sondern sie selbst kommt ebenso zu Wort wie ihre unglücklichen Liebhaber. Denn Zina ist eine verführerisch schöne Frau, eine "femme fatale", die die Männer in die Verzweiflung treibt. Der Fluch, der über ihr liegt, drückt sich in der Doppeldeutigkeit ihres Namens aus. Einerseits bedeutet er "Schönheit", andererseits aber "Ehebruch".Die Ursache für den Fluch, so wird erzählt, liegt in den Umständen ihrer Geburt. In dem Moment, in dem sie geboren wurde, starb nicht nur ihr Großvater, sondern ihre Zeugung soll außerdem die Folge eines Verbrechens, einer Vergewaltigung gewesen sein. Die fünf Liebhaber, die sie in die Verzweiflung getrieben habe, entsprächen den fünf Räubern, die ihre Mutter geschändet hätten. Was daran wahr ist, darüber wird der Leser im unklaren gelassen. Sicher ist zumindest, dass die Gerüchte wesentlich zu dem beitragen, was Zina ist: eine Außenseiterin, eine Fremde im eigenen Land.Die Dinge wären für Tahar Ben Jelloun jedoch zu einfach, wenn er seine Heldin zum reinen Opfer machen würde. Ein Stück weit hat sie sich ihre Rolle am Rand der Gesellschaft selbst gewählt. Als Kind "leistete sie sich Abwesenheiten", indem sie sich in Träume zurückzog, die sie von der wirklichen Welt entfernen. "Fremd sein bedeutet, Distanz zwischen sich und den anderen zu schaffen. Selbst als Kind benahm ich mich nicht wie die anderen Kinder. Ich spielte nicht die gleichen Spiele, hatte nicht die gleichen Rituale. Ich stand abseits, wurde als Einzelgängerin oder sogar als Verrückte angesehen."Die Kraft, die sie aus ihren Träumen zieht, nutzt Zina, um sich eine kritische Unabhängigkeit zu erhalten. Ohne ihre Außenseiterrolle zu verklären, erzählt Ben Jelloun hier wie auch in seinen anderen Romanen von den Möglichkeiten, die Randexistenzen in einem Land wie Marokko haben. Dass sie teilweise akzeptiert werden, wie zum Beispiel der Geschichtenerzähler aus Der Gedächtnisbaum, der gleichzeitig als verrückt und weise gilt, ändert allerdings nichts an ihrer prekären Lage. Und so ist denn auch Zina immer wieder den Anfeindungen der Frauen und der Gewalt der Männer ausgesetzt. Der Fortgang der Geschichte bleibt jedoch offen. Der Erzähler und seine Frau sind sich nicht einig über die "wahre" Geschichte ihrer Heldin. Sie geben ganz offen zu, dass sie ihren Erzählstoff manipuliert haben. "Das Publikum braucht den Glauben an diese unglaubwürdigen Geschichten, es will träumen, will bei der Hand genommen und anderswohin geführt werden, wo die Logik keine Logik mehr ist, wo es seine Alltagsprobleme hinter sich lassen kann." Einer ihrer Liebhaber erzählt sogar, dass er sich nicht sicher ist, ob er eine wirkliche Frau geliebt hat oder nur das Bild, das er von ihr hatte. In einer anderen Version wird Zina am Ende zu einer religiösen Führerin, die für die Achtung der Frau kämpft. Nicht zuletzt belegen alle diese Geschichten die Macht des Erzählens.Das gilt im negativen wie im positiven Sinne. So wie einige der Geschichten in Tahar Ben Jellouns Roman die reale Frau prägen, sie als männerverschlingenden Vamp stigmatisieren, rufen andere Verständnis für Zina hervor. Sie geben nicht die Wirklichkeit wieder, aber doch eine Geschichte, die wahr ist, weil es so gewesen sein könnte. Sie entfernen sich von der Realität, nähern sich ihr aber dadurch wieder an, indem sie sie durch das Erzählen beeinflussen. Daher ist es kein Zufall, dass einer der unglücklichen Liebhaber Zinas - ein erfolgloser Schriftsteller - einen Brief an Salman Rushdie schreibt. Rushdie ist nicht nur Zeuge der dramatischen Folgen des Erzählens, sondern er ist gleichzeitig durch den Zwang, im Untergrund leben zu müssen, der Außenseiter schlechthin: Er wurde durch das Erzählen wurde er zum Fremden.Tahar Ben Jelloun: Zina oder Die Nacht des Irrtums, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999, 380 S., 42,- DM