Ein Mann in Latzhosen, mit wasserblauen Augen und roten Wangen sitzt am Küchentisch, um ihn herum ein halbes Dutzend blonder Kinder, eine Frau. Teller klappern, leises Gemurmel. Die Kinder gehen hinaus, die Frau im dunkel geblümten Kleid bleibt noch einen Moment. „Ich liebe dich“, sagt der Mann, als auch sie aufsteht; sie lächelt: „Ich weiß.“ Von den Abgründen der Liebe handelt Luz silenciosa (auf Plattdeutsch, der Originalsprache des Films: Stellet Licht), der Film des Mexikaners Carlos Reygadas, der diese Woche in die deutschen Kinos kommt. Die Geschichte spielt in einer Mennonitengemeinde im Norden Mexikos. Sie ist schnörkellos: Johan, ein freundlicher Familienvater, verliebt sich in eine andere Frau, die Ehefrau zerbricht am Schmerz
Kultur : Stilles Licht, rauer Glanz
Endlich ist der Film "Stellet Licht" auch in Deutschland zu sehen. Er ist Bote eines neuen mexikanischen Kinos, das sich nicht mehr so leicht einordnen lässt
Von
Anne Huffschmid
bricht am Schmerz.Der erste Spielfilm aus der Welt der MennonitenAlle Bewegung, alle Bilder, sind bedächtig, es gibt nichts Schnelles, Schrilles, Schwülstiges, nur diese unglaubliche Klarheit und uralte Fragen. „Wie musst du dich verhalten, wenn du aufhörst, einen Menschen zu lieben und dich in einen anderen verliebst?“ Reygadas, ein junger Mann in rockiger Lederjacke und Sonnenbrille, nippt an seinem Bier und sieht an diesem Morgen auf der Dachterrasse eines Hotels in einer hippen Gegend in Mexiko-Stadt eigentlich nicht aus wie einer, der sich solche Fragen stellt. Wie der Film nicht aussieht wie einer, der aus Mexiko stammt.Reygadas, der zuvor mit Japón (2002) und Batalla en el Cielo (2005) für Aufsehen gesorgt hatte, zählt zu den eindrücklichsten Filmemachern des neuen mexikanischen Kinos. An den Mennoniten, die seit den zwanziger Jahren im Land beheimatet sind, interessiert ihn weniger das fromme Setting als vielmehr die Klassenlosigkeit und der Verzicht auf allen äußerlichen Tand. Es ist der erste Spielfilm aus ihrer Welt – und er ist ausschließlich mit mennonitischen Laien besetzt. Einer von ihnen, Cornelio Wall, der Johan, sitzt mit auf der Terrasse. Diesmal trägt er Shorts, keinen Overall. „Wir benutzen diese Kleidung ja schon länger nicht mehr“, sagt er in gebrochenem Spanisch. Aber es sei ja nicht um das Mennonitentum und auch nicht nur um „Sex und Küssen“ gegangen, sondern um „was viel Universelleres: Liebe, Verrat, Betrug“. Nur ganz am Ende kippt die klare Linie ins Mystische: Die Ehefrau liegt tot aufgebahrt, Johan bricht unter der Schuld fast zusammen, da tritt die Geliebte an das Totenbett – der Rest ist Magie. Und leider auch Moral. Warum nur hadern mexikanische Filme so oft mit ihrem Ende?Marina Stavenhagen, die Chefin der mexikanischen Filmförderung IMCINE, lacht: „Das hat wohl mit unser Kultur zu tun, am Ende steht der Glauben, nicht die Ratio.“ Ein solches Finale sei doch allemal großzügiger und liebenswerter, als in der Tragik und der Schuld zu verharren. So wie die Argentinier der Psychoanalyse frönten, kultivieren die Mexikaner den Glauben an die großen und kleinen Wunder. Stellet Licht hat 2007 den Jury-Preis auf dem Festival in Cannes gewonnen, später auch den Filmpreis in Havanna.Nach dem Tequila-CrashEs sei eine gute Zeit für das mexikanische Kino, sagt Stavenhagen. Schon dass sie als unabhängige Filmerin und profilierte Drehbuchautorin, etwa für eine grandiose Dokumentation über eine fast vergessene Guerilla der sechziger Jahre, zur obersten Filmförderin aufgestiegen ist, gilt als gutes Zeichen. Für einen der größten Erfolge dieses Kinos hält Stavenhagen, dass es als solches nach den gängigen Stereotypen nicht mehr erkennbar ist. Lange Zeit wurden einige wenige filmische, nicht selten klischeehafte Sujets variiert: die Misere in Stadt und Land, die indigene Folklore, die Armen und die Campesinos, die sinistren urbanen Unterwelten zwischen Cantinas, Bettlern und Pistoleros. Heute hat sich die Vision aufgefächert. Mittelschichten geraten in den Blick, Migranten, auch Indigene in New York, Multikulturalität meint nicht mehr nur Indiovölker, sondern auch jüdische Urbanität oder eben Mennoniten. International Furore machte im letzten Jahr der Thriller La Zona von Rodrigo Plá, der in einer gated community inmitten eines mexikanischen Molochs spielt. Ob es in einer globalisierten Bilderwelt noch so etwas wie eine mexikanische Bildsprache gibt, bleibt eine komplizierte Frage.Im blühenden Dokumentarfilm stellt sie sich kaum. Was hier an Bildern gefunden wird, erzählt ohne ethnisches Pathos von mexikanischen Lebenswelten. Ein Beispiel ist Juan Carlos Rulfo, der in dem abendfüllenden Film En el Hoyo (Im Loch) monatelang eine Gruppe von Arbeitern begleitet, die bei Tag und Nacht mitten im Moloch die neue Stadtautobahn bauen. Dabei befördert der Sohn des Schriftstellers Juan Rulfo nie Gesehenes, Plackerei und Poesie urbaner Untertagearbeiter ans Tageslicht.Im Spielfilm wird es schon schwieriger. Ist Pans Labyrinth, die fantastische Kinosaga vom spanischen Franquismus – eine gelungene filmische Übersetzung von Tyrannei und Widerspenstigkeit – schon deshalb mexikanisches Kino, weil ihr Regisseur Guillermo del Toro einen mexikanischen Pass besitzt? Was genau an Stellet Licht wäre mexikanisch zu nennen? Ist die beklemmend schöne, in schwarzweiß gefilmte Geschichte vom greisen Violinspieler, der seine Familie in einem nie näher benannten Bürgerkrieg verliert und auf eigenwillige Art Widerstand leistet (El Violín von Francisco Vargas) nicht eher eine universelle Geschichte? Und der weltumspannende Episodenfilm Babel des mexikanischen Starregisseurs Alejandro Gonzalez Iñárritu, der nur zu einem Fünftel in Mexiko spielt – und dort zudem, wegen der vermeintlich stereotypen Mexiko-Bilder, zwiespältig aufgenommen wurde?Kantig statt kitschigNach einer goldenen Ära des mexikanischen Films in den fünfziger Jahren, mit glamourösen Leinwandstars wie Maria Felix und Pedro Infante, war es mit der Produktion erst ästhetisch und mit dem so genannten Tequila-Crash 1995 später auch ökonomisch bergab gegangen. International verschwand Mexiko in der Versenkung und tauchte nur mit Schnulzen wie Bittersüße Schokolade nach dem Bestseller von Laura Esquivel bisweilen wieder auf.Eine neue Welle rollt seit der Jahrtausendwende durchs Land, rauer Realismus statt melodramatischer Folklore, kantig statt kitschig, nicht selten mit Low-Budget, zuweilen mit Laienschauspielern. Dazu gehören Filme wie Perfume de Violetas (Veilchenparfum, 2000) der Filmemacherin Marisa Sistach, der die verzweifelte Freundschaft und den brutalen Überlebenskampf zweier Mädchen in einen Armenviertel von Mexiko-Stadt erzählt – ohne Happy End. Eine etwas sanftere Großstadtgeschichte ist Vivir mata (Leben tötet, 2001) von Nicolás Echeverría, die surreale Lügen- und Liebesodyssee zweier Stadtneurotiker. In Sin dejar huella (Ohne Spuren zu hinterlassen, 2000) erzählt Maria Novaro die Flucht zweier Drogenhändlerinnen quer durch die Republik. Zum Kultfilm der politischen Satire wurde die Groteske La Ley de Herodes (Gesetz des Herodes) von Luis Estrada, eine Persiflage auf die Banalität der autoritären Politbürokratie Mexikos – gerade rechtzeitig zur Abwahl der institutionalisierten Revolution im Jahr 2000 lanciert.Auf Kinoleinwände außerhalb Mexikos schaffte es jedoch erst Amores Perros, der 2001 für den Oscar nominiert wurde. Ein ähnlicher Auslandserfolg wurde, wenn auch um einiges simpler gestrickt, Y tu mama también (2001) von Alfonso Cuarón, ein deftiges Road- und Sexmovie, in dem zwei Halbwüchsige ihr Land und zugleich ihren geschwätzigen Jungmänner-Machismo durchqueren und dabei, buchstäblich, an neue Ufer geraten. Beide Filme, wie auch die skandalumwitterte Versuchung des Padre Amaro (2002) von Carlos Carrera – gegen den der mexikanische Klerus Sturm gelaufen war – haben ihren internationale Ausstrahlung in nicht unbeträchtlichem Maße dem Können und Sex-Appeal des seither global begehrten Gael García Bernal zu verdanken.Konkurrenz aus dem NordenDass der durch Sponsoren finanzierte Amores Perros, der Garcia Bernal schlagartig weltberühmt machte, ohne staatliche Gelder auskam, gilt als große Ausnahme. Denn zweifellos hat die Filmörderung den gegenwärtigen Boom kräftig mitbefördert. Waren es in den neunziger Jahren im Schnitt gerade 15 Filme im Jahr, so wurden 2008 in Mexiko gut 70 Filme produziert, ein Zehntel mehr als noch im Vorjahr; immerhin 41 davon haben staatliche Zuschüsse bekommen. IMCINEhat derzeit rund 270 Millionen Pesos zu vergeben, das sind etwa 14 Millionen Euro im Jahr. Seit Anfang 2007 gibt es zudem ein neuartiges Förderinstrument, nämlich gezielte Steueranreize für Investition in die Kinoproduktion, auch für filmferne Investoren. Filmschaffende wie die Drehbuchautorin Bertha Navarro (Pans Labyrinth) befürchten allerdings, dass auf diese Weise nur cleanes, familienfreundliches Kino gefördert würde, „ohne Gewalt, Sex-Szenen, Sozialkritik oder schmutzige Sprache“.Ansonsten aber bleiben die Bedingungen prekär. Das liegt vor allem an der Konkurrenz zum übermächtigen Nachbarn im Norden, der wie viele andere auch den mexikanischen Kinomarkt dominiert. Während knapp 30 mexikanische Produktionen auf ihre Premiere warten, werden die Leinwände von den US-Majors beherrscht. Zwar ist gesetzlich eine Leinwandquote von 10 Prozent für heimisches Kino vorgeschrieben – früher waren es noch illusorische 50 Prozent –, doch selbst die wird nicht eingehalten. Auf 95 Prozent der Leinwände laufen ausländische Filme, 90 Prozent davon sind made in the USA. Bei der nicht unproblematischen Quotenforderung gehe es „nicht darum, irgendjemanden zu zwingen, mexikanisches Kino zu produzieren oder zu konsumieren“, wie Marina Stavenhagen sagt. Aber doch um „Chancengleichheit“.Die erfolgreichsten Regisseure gehen ins AuslandHinzu kommt, dass Kino trotz des Booms bislang kein gutes Geschäft ist. Gerade sechs Prozent der Mexikaner gehen der Statistik zufolge regelmäßig ins Kino, die Kinokarte kostet mindestens 50 Pesos, gut 2,50 Euro, ein Mindesttageslohn. Die allermeisten Filme liegen schon zum Kinostart als Raubkopie auf den Bürgersteigen und nur 15 Prozent der Erlöse an den Kinokassen fließen zurück an den Produzenten. Im Kongress diskutiert werden daher neue Initiativen zur Kinoförderung, etwa eine Sondersteuer auf die Eintrittskarten, die der Produktion zugute kommen soll. „So etwas gibt es schließlich auch in den Branchen Tabak oder Tourismus“, meint die Schauspielerin und Abgeordnete der mexikanischen Linkspartei PRD, Maria Rojo. Gefordert wird außerdem eine Art Zwangsabgabe des Fernsehens als Beitrag zur nationalen Kinoproduktion. Das staatliche Fernsehen ist als Koproduzent bislang so gut wie inexistent. Und das finanzkräftigere Privatfernsehen produziert, wenn überhaupt, nur Billigware für den vermuteten Massengeschmack.Nicht zuletzt daran liegt es, dass die erfolgreichsten Macher Glück und Gelder regelmäßig im Ausland suchen, vor allem im Norden wie Iñárritu oder Cuarón, aber zunehmend auch in Europa wie Guillermo del Toro. Die IMCINE-Chefin hat mit den Auswanderern kein Problem, Produktionen wie Pans Labyrinth könnten im Lande eben nicht finanziert werden. Und es gibt durchaus eine Art Rückfluss: Stars wie Regisseur del Toro oder Schauspieler wie Garcia Bernal und Diego Luna, die zusammen die Dokumentarfilmfirma Ambulantes gegründet haben, fördern regelmäßig Independent-Produktionen in Mexiko.Der Erfolgsregisseur Luis Mandoki, der in Hollywood schon viele Jahre im seichteren Mainstream schwimmt und dort mit Jennifer Lopez, Meg Ryan oder Kevin Costner gedreht hat, ist sogar eigens zurückgekommen – und zwar nicht wegen der cineastischen, sondern der politischen Konjunktur. In seinem Film Mexiko 2006: Fraude (Betrug) dokumentierte er einen politischen Skandal: Wie Andrés Manuel López Obrador, einer der populärsten Linkspolitiker der mexikanischen Moderne, als Staatspräsident verhindert wurde. Zwar kommt als talking head fast ausschließlich der Betrogene selbst zu Wort, aber das Filmästhetische sei hier ausnahmsweise mal nebensächlich gewesen, meint die Kinojournalistin Sonia Riquer. Mandoki bezeuge die Geschichte „unserer Wut“, sein Film agitiere gegen Gewöhnung und Vergessen. Mit Erfolg zumindest an der Kinokasse: Fraude war einer der bestbesuchten mexikanischen Filme der letzten Jahre.