Das Kino der Gegenwart ist nicht mehr nur allein für reine Bildphantasien zuständig. Das bekommen ab jetzt auch die Körper der Filmfiguren unweigerlich zu spüren
Sex macht traurig. Schon die alten Römer wussten, dass auf Erregung und Ekstase unweigerlich Ernüchterung und Alltag folgen: post coitum omne animale triste. Der Satz kündet von der realistischen Einsicht, dass in jedem Menschen, so überlegen er sich der übrigen Natur gegenüber auch fühlen mag, ein Tier steckt. Die abendländischen Religionen und ihre theologischen Verkünder haben diesen Abgrund zwischen Allmacht und Ohnmacht weidlich ausgenutzt. Ein tief sitzendes Schuld- und Schamgefühl verband sich über Jahrtausende mit Sexualität.
Das alles schien seit der sexuellen Befreiung in den Jahren um 1968 nur noch den Charme von Erinnerung ans Gewesene zu haben. Doch seit einiger Zeit mehren sich die Zeichen eines sexualkritischen Allta
ualkritischen Alltagsdiskurses und eines sexualpessimistischen Kunstdiskurses. Das betrifft besonders den Film, der mit seinen mimetischen Qualitäten Vorreiter bei der Befreiung der Körper war.Wie besorgniserregend der Zustand ist, belegt der Spiegel, der unlängst bettelte: „Mehr Sex bitte“. In der Tat liefert der Blick auf das Kino der Gegenwart ein verwirrend antimodernes Bild. „Sex ist sentimental“, befindet der französische Autor Michel Houellebecq und verzichtet bei der eigenen Verfilmung seines Erfolgsromans Die Möglichkeit einer Insel auf jede Darstellung von intimer Zweisamkeit. Wobei das Wort sentimental bei Houellebecq für hoffnungsloses Gestern steht. Sex wird zur Leerstelle, die nur durch Nicht-Schilderung romantisch aufrechterhalten werden kann.Man mag einwenden, dass das reichlich missratene Werk eines späten Filmdebütanten keinen verlässlichen Indikator für einen neuen Trend im postmodernen Kino abgibt. Aber auch Lars von Triers jüngster Spielfilm Antichrist zeigt zwar Sex und schreitet dabei die Grenzen des Darstellbaren neu aus, huldigt dabei aber nicht einem teuflischen Verführer, sondern endet mit der Strangulierung einer Frau, die in einem tödlichen, sexuell aufgeladenen Geschlechterkampf die Züge einer Hexe angenommen hat. Diese Szenen haben nichts Pornografisches an sich, denn Lust, Begehren, wechselseitige Befriedigung gar sind durch Horror und Gewalt überlagert. Wir bewegen uns in einem Universum der Qual jenseits des Freud‘schen Lustprinzips.Neue TreueEs mutet wie eine aberwitzige Dialektik der Geschichte an, dass ausgerechnet in dem Moment, da Sexualität nicht mehr länger unter dem Diktat von Fortpflanzung und dem Zwang zur Reproduktion von Familie, Nation und Ethnie steht, Sexualität selbst wieder unter einen Generalverdacht geraten ist. Die Aussicht, dass Sex im Zeitalter von medizinisch-biologischen Reproduktionstechniken nur noch zur Lust und Trieberfüllung dienen könnte, bereitet keine Freude, sondern macht frösteln. Die vom klassischen Zweck losgelöste Lust wird zur neuen Last.Aber der Befund des Spiegel, das Kino habe die Lust verloren, greift zu kurz. Die Pornoindustrie boomt seit vielen Jahren, und ein Teil der Schaulust, die bis dahin im Kino befriedigt wurde, hat sich in den DVD-Bereich und in das Internet verlagert – damit aber auch seine Gestalt verändert. In diesen aufgegebenen Raum ist etwas anderes eingewandert, das besser die Befriedigung einer aktuellen Verunsicherung zu leisten scheint: die Darstellung von Gewalt. Nüchtern und illusionslos muss man feststellen, dass das Paradigma der Darstellung von erotischer Lust seit Jahrzehnten an Boden verloren hat gegenüber den Gewaltphantasien, wie sie das poststrukturalistische Mainstream-Hollywood über die Welt-Kinomärkte ausgießt. Der alte Hippie-Refrain „Make Love not War“ hat sich in unserer Gewalt beherrschten und Gewalt versessenen Welt in das Gegenteil verkehrt: Make War not Love. Hier ist das Kino mit seinen Erfolgsfilmen, ganz banal, ein Spiegel von Wirklichkeit. Man kann diese Wirklichkeit pathogen nennen. Aber ein etwas genauerer Blick zeigt, dass in den Action- und Horrorfilmen ein Trauma immer wieder durchgearbeitet wird: die Zerstörung des Körpers.Der genussfähige Körper stand im Zentrum von Andeutungen, Mehrdeutigkeiten und pornografischen Geständnissen. Das Verschwinden von sinnlich-erotischen Filmen zu bejammern und voluntaristisch eine Rückbesinnung zu verlangen, verfehlt das Problem noch aus einem weiteren Grund. Glaubt man nicht nur Lars von Trier und Houellebecq, dann gibt es diesen „alten“ Körperdiskurs nicht mehr. Dafür kann es mehrere Erklärungen geben. Die tröstlichste wäre, dass die herkömmlichen Bilder für sexuellen Genuss schal geworden sind und es erst wieder neue Erfahrungen geben muss, die sich zu öffentlichen Bildern verdichten können. Im Gegensatz zur Ideologie von ‘68 hat Treue heute wieder einen hohen Stellenwert. Das führt bei vielen jungen Regisseuren zu einer neuen Prüderie in der Darstellung von Sexualität aus Angst, dass das mit triebhafter Ausschweifung gleichgesetzt werden könnte. Stattdessen wird der Körper zum Tummelplatz verschiedener Folterpraktiken.Keine rare WareEin anderer Zugang eröffnet sich auf medienkritischer Ebene. Demnach ist Kino im Zeitalter von Fernsehen und erst recht des Internet nicht mehr der einzige Ort, an dem bildmächtige Phantasien Wirklichkeit werden. Zwischen Internet und den „alten“ Bildmedien spielt sich eine unerklärte Arbeitsteilung ab. Explizite Darstellung von Sexualität und Hardcore-Pornografie findet ihre unzähligen Aufführungsorte jenseits der klassischen Öffentlichkeit. In den neuen Foren des Internet treten neue Produzenten auf, für die Pornografie ein Mittel der Selbstdarstellung ihres Lebens geworden ist. Damit hat die Pornografie den Ruch des Verbotenen verloren, und aus der Schaulust, die im Kino immer eine distanzierte war und ihren Anteil an Idealisierung nie loswurde, ist eine alltagspraktische Kommunikation geworden: eine Form der Warenproduktion wie jede andere.Mit der Sexualität und ihrer medialen Vermittlung ist es ein Elend: Von der großen Euphorie und den revolutionären Erwartungen musste sie mit dem Ausbleiben des neuen Menschen und der politischen Revolution als Sündenbock herhalten. Mann und Frau schämen sich für die verschwendeten Hoffnungen und machen Sexualität haftbar dafür. Dabei gilt es zu bedenken: Nur das menschliche Tier ist nach der Enttäuschung traurig.