Ich fürchte sehr, dass das System des Lebens zu diffus ist, um eine Linderung zu erlauben. Für jedes beruhigte Symptom verschlimmert sich ein anderes“, so sagt es Wylie in Samuel Becketts Roman Murphy. Oft möchte man Wylie Recht geben. Aber eben nicht immer. Was im Moment als Missbrauchsdebatte den öffentlichen Diskurs beherrscht, riecht nach Umsturz, es sieht aus, als stünde ein Paradigmenwechsel bevor. Die Medien berichten nicht mehr mit der früher üblichen verklemmten Erregung über die Skandale, sondern beschreiben erstaunlich sachlich die Enthüllungen. Auch, dass das unangenehme Thema nach vier, nach sechs und auch nach acht Wochen noch nicht vom Tisch ist, bedeutet, dass der Druck zu groß wird, als dass alles so wie bisher weiter
tergehen könnte. Die beständig steigende Zahl der Missbrauchsfälle und nun der Kirchenaustritte klingt wie ein atemberaubender Countdown für jene Institution, die sich fest und unverrückbar auf Petrus als Fels gebaut glaubte.Was geschieht hier eigentlich, und warum geschieht es jetzt? Nichts von alledem hat mit den Fakten zu tun: Die Missbrauchsfälle sind alt, und dass es sie gibt, ist lange bekannt. Doch Berichte über Missbrauch von Kindern oder Jugendlichen standen im Ruf des voyeuristisch Halbseidenen, als würde man sich am Opfer infizieren, wenn man die Dinge zu genau betrachtet. Es ist das alte Spiel, denn, dass der Kaiser nackt ist, sehen alle, nur kann man es nicht zu allen Zeiten zugeben. Plötzlich aber schlägt der Diskurs um, plötzlich kommen Dinge zur Sprache, die vorher zwar bekannt, aber unaussprechlich waren. Genau so etwas geschieht offenbar gerade, und wenn der Papst, dessen jüngster Hirtenbrief so schlecht nicht war, als erste Maßnahme das Gebet anordnet, wird das wenig nützen.Strenge MaßstäbeDass die öffentliche Meinung jetzt umschlägt, hat viel mit dem Kirchenboom der vergangenen Jahre zu tun. Aus unerfindlichen, aber sicher nicht tiefen spirituellen Gründen wurde der Katholizismus inklusive seiner letzten beiden Päpste zu einem vorzüglichen Thema der Medien. Das fällt der Kirche jetzt auf die Füße, denn mit Pop-Phänomenen wird streng säkular abgerechnet. Hinzu kommt, dass sich komplett unabhängig von der katholischen Lehre ein wesentlich offenerer gesellschaftlicher Umgang mit von der Norm abweichender Sexualität entwickelt hat. Aids-Aktivisten, aber auch die Queer-Bewegung haben einiges dazu beigetragen. Vieles von dem, was ehemals als schwüle Perversion an den Rändern des sexuell Erlaubten siedelte, kann mittlerweile auf halbwegs aufgeklärte Weise auch im Mainstream verhandelt werden, und das wirkt sich – so muss man hoffen – auch auf das Sprechen über Missbrauch aus.Geändert hat sich auch der gesellschaftliche Stellenwert des Kindes. Früher ist man ja mit vielem, was heute Gewalt und Missbrauch heißt, nicht so zimperlich gewesen. Dass die Opfer von damals sich jetzt so massiv zu Wort melden können und gehört werden, ist auch vor dem Hintergrund einer Gesellschaft zu verstehen, die das eigene Kind gegenüber Institutionen und den Autoritäten aufwertet. Es ist eine Gesellschaft, die, nominell zumindest, die Mangelware Kind über alles setzt und strenge Maßstäbe anlegt.Metapher des SchweigensWird die katholische Kirche sich erholen von den Skandalen, die sie nicht zufällig an ihrem schwächsten Punkt, dem Umgang mit Sexualität, erwischen? Wer schickt sein Kind jetzt noch auf Klosterschulen? Als Krisen-PR müsste man dringend ein offensives Vorgehen empfehlen: Den Zölibat abschaffen, der zwar nicht Ursache des Missbrauchs, aber die Metapher für das Verschweigen überhaupt ist. Harte Exempel statuieren, offen mit Sexualität umgehen, Frauen zum Priesterdienst zulassen und dann die geläuterten kirchlichen Schulen als das vermarkten, was sie vormals sein wollten: nämlich Orte des Schutzes.Derzeit geht unwiederbringlich die Imagination des „guten Ortes“ verloren. Auch wenn man wusste, dass Missbrauch überall vorkommen kann und Klöster immer auch mit Phantasien von heimlicher Perversität belegt waren, galten sie doch als Räume, an die der Schmutz der Welt nicht heranreicht. Klosterschulen und Internate ebenso wie Reformschulen – deren Fall allerdings anders liegt – waren ja eine Alternative, oft auch gegen die weltliche Verwertungslogik. Denn Priester, Mönche und Nonnen im Erziehungsauftrag kennen keine Freizeit, kein Wochenende, keine persönlichen finanziellen Interessen. Sie sind immer da, hingegeben an ihre Berufung. Was das im positiven Sinn für Kinder bedeutet, die keine Familie haben oder einen Ausweg aus einer schwierigen Situation brauchen, muss kaum betont werden. Was hieße es, wenn diese Art von Erziehungs- und auch Seelsorgeengagement wegbräche?Das gleiche PhänomenDoch im Moment geht es nur um eine Debatte – nicht mehr und nicht weniger. Eines bleibt allerdings auch richtig: An den Missbrauchszahlen hat sich über die Jahre hinweg erstaunlich wenig geändert. Das Phänomen bleibt das gleiche, sagen Fachleute, egal ob „Missbrauch“ gerade ein Thema ist oder nicht. Gewalt und Machtausübung ist ein strukturelles Problem, tiefer verankert und flexibler in seinen Formen, als es eine Tätersuche – Kinderschänder, Familie, Erziehungsinstitutionen – je begreifen kann.
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