Als ich den FC St. Pauli hassen lernte, war das eine schöne Zeit. Damals in den 70ern erfreute uns eine überschaubare Welt, in der das Gute GrünWeiß war, wie der Oberligaverein VfB Lübeck. Die meisten übrigen Fußballklubs galten als neutral – Atlas Delmenhorst etwa, Union Salzgitter oder der VfL Wolfsburg. Weit genug weg, sich nicht an ihnen reiben zu müssen, fast sympathisch, hatte man sie erst einmal im Stadion gehabt.
Nur zwei oder drei Mal pro Saison ging es um mehr, um die Ehre, standen wir unter Hochspannung und liefen mit Polizeischutz zum Stadion. Wenn die bösen Nachbarn kamen. Holstein Kiel. Und der FC St. Pauli. Jener Verein, der in diesem Jahr angeblich hundert Jahre alt wird, der heute ein sogenannter Kultverein ist, aber damals
ber damals noch ein Fußballverein war. So wie wir anderen. Nur eben eine halbe Nummer besser, immer oben dran in der Oberliga, immer auf dem Absprung in ferne Profiwelten. Das wollte man denen nie durchgehen lassen. Wenn St. Pauli kam, waren das Stadion und die kleine Stadt aufgeputscht. Da schmerzte jedes Gegentor bitter, das fiel, und doch fallen musste. Denn St. Pauli, mit seinen hässlichen braunen Hemden, kam immer bloß um zu gewinnen. Sie gewannen 3:1, sie gewannen 1:0. Man versuchte sich noch mit ein wenig Randale und roten Karten zu wehren, aber egal: Sie gewannen. Tief verletzt schlurften wir heimwärts.Das PalästinensertuchZu jener Zeit ging es im Fußball eben noch um Fußball. Der DFB und seine Verbände hatten noch keine Verschlankung aller Ligen für sich entdeckt, von den Profis gab es noch einen sanften Übergang zum Amateurlager. In der Oberliga Nord konnten sich daher noch Welten begegnen, trat ein Ex-Bundesligist in Itzehoe an, gab es noch eine Beheimatung in Ortsderbys: St. Pauli musste sich an Hummelsbüttel oder Concordia messen lassen, in Lübeck trieb ein Spiel gegen den 1. FC Phönix noch die Massen ins marode kleine Stadion. Doch wo der Fußball einstmals ein Kontinuum vom Kreisklassenacker bis zur Bundesliga bildete, nahm die Aufspaltung des Fußballs bald ihren spätkapitalistischen Gang. Um 1990 begannen die oberen Ligen sich abzusetzen vom Gewürm da unten, Profifußball orientierte sich in Richtung Eventkultur, und dank Live-TV konnte man noch im hintersten Wohnzimmer der Republik sitzen bleiben, um Erste-Klasse-Kickern zuzusehen. Dass es gleich um die Ecke einen lokalen Verein gab, der sich ehrlich mühte – geschenkt.Der FC St. Pauli war einer jener Vereine, der in dieser fußballhistorischen Phase am ärgsten bedroht war: Nie wirklich in der Lage, dem großen HSV auch nur die Stollen zu putzen, befanden sich die Braunen aus einer Laune des Schicksals heraus gerade wieder auf dem aufsteigenden Ast, als sich die Lücke auftat zwischen dem echtem, dem würdigen Schlammrutscherfußball der Amateure und dem monetär bepulverten Entertainment-Soccer der Profiklassen. Zunächst sah es so aus, als könnten sich die Paulianer in den Verdienstbereich retten, trotz der Hemden, und so wurde Hamburgs altehrwürdige Nummer zwei zum ersten Verein, dessen Fantum zum Lifestyle verkam: Um St. Pauli-Fan zu sein, musste man nicht aus Hamburg kommen, nicht einmal aus Norddeutschland. Für einen St.-Pauli-Fan war einzig bedeutsam, dass er sich als irgendwie „alternativ“ begriff, das St. Pauli-T-Shirt wurde zum Palästinensertuch der Neunziger Jahre. St. Pauli war der erste Verein, dessen Anhänger man werden konnte, ohne sich um Fußball zu scheren.Was haben wir sie verachtet, die so genannten St.-Pauli-Fans. Man konnte in den Neunziger Jahren hingehen, wo man wollte in dieser Republik: Es war bereits ein schlecht frisierter Mensch mit Totenkopf-T-Shirt da, und der Mensch konnte aus Korbach, Oelde oder Bad Cannstatt stammen: In Hamburg war er noch nie gewesen. Sie saßen in der Mensa im beschaulichen Göttingen, das zeitweise gleich zwei Vereine in der Oberliga hatte (die vom Publikum gleichermaßen ignoriert wurden), sie saßen uns im Zug gegenüber, sie mutierten zu untersetzten Münsteraner Tatort-Kommissaren, sie mutierten zu Uli Hoeneß: Egal wer, egal wo, das St.-Pauli-T-Shirt zeigte jeder gern vor, der ehemalige Fußballverein wurde zu einem juvenilen Hipness-Accessoire, vergleichbar den taz-Anteilen, die Kai Diekmann sich wohl gekauft hat.Sportlich ein Halbnichts wie eh, ist aus dem Klub eine Marke geworden. Die Piratenflagge errang den Status eines offiziellen Zweitwappens, bis heute prangt das entsprechende T-Shirt auf Antifa-Demoplakaten. „Non established since 1910“ sei man, verkündet die Vereinshomepage, auf der man auch eine Trainigshose des Coaches ersteigern kann. Erdigkeit in Tüten. Urbane Bodenständigkeit für zwischendurch. Und wenn‘s drauf ankommt, zeigt die Alternativkultur auch, wie kritisch sie militantem Machotum gegenübersteht: Als sich jüngst ein Spieler im Siegeswahn eine Pauli-Fahne griff, sie breitbeinig in den Rasen von Hansa Rostock rammte und nicht vergaß, den Rostocker Fans die Geste des Kehledurchschneidens zu zeigen, wie reagierten da die Pauli-Fans? Eine Welle der Begeisterung rollte durch Facebook und Youtube.Die AlternativeDabei sah es vor ein paar Jahren einmal kurz so aus, als sollte es Seelenrettung geben: Da drohte der Absturz in die Viertklassigkeit, die Medien hatten den Underdog längst durch den SC Freiburg oder Mainz 05 ersetzt. In Hamburg begannen erste Fans, ihr Herz für den Fußball zu entdecken, und wanderten zum Traditionsverein Altona 93 ab, dem „wahren“ St. Pauli. Finanziell stand der Verein wieder mal vor dem Aus. Einen Moment lang durfte man hoffen, der verlorene Bruder käme heim, könne alles abwerfen, was er sich aufgeladen und übergeworfen hatte an falscher Identität, an Showbizgetue, das dem Verein stets zwei Nummern zu groß gewesen war. Einen Moment lang stand zu hoffen, man könne sich wieder, wie früher so oft, an den verhassten Nachbarn aus Hamburg reiben, auf dass die Funken flögen.Aber, ach: Kurz vor ihrer Reinigung im Fegefeuer des Amateurfußballs flatterten sie wieder aufwärts, stehen nun im vermeintlich hundertsten Jahr ihrer Existenz, die St. Paulianer. In Wahrheit ist der Verein nur 86 Jahre alt. Und die da jetzt unter ihrem Namen spielen, von Piratenflaggen umweht, in einem Stadion voller erlebnishungriger Medienmitarbeiter, sie sind nur Schemen dessen, was einmal war und was uns den Fußball lieben ließ.Wir wünschen fröhlichen Aufstieg. Möge endlich ein Sponsor kommen, der das scheußliche Braun von den Trikots verbannt. Ein flottes Jever-Logo auf grünem Grund etwa würde ihn wieder erträglich machen, den Ex-Klub, den wir einmal inständig hassten – und den wir heute nicht mal mehr verachten können.