Man kann sexuellen Missbrauch strafrechtlich verfolgen. Oder den Widerstand gegen ihn stärken. Denn wir stehen am Anfang einer inflationären Entwertung des Begriffs
Hallo! Ich bin auch missbraucht worden! Wird mir soeben klar. Ich war zehn und in Zittau. 1943. Verschickt aus dem Bomben-Hamburg zum Klavierlehrer Trauer. „Wäscht du dir auch die Falte am Bauch?“, wollte er wissen. „Häh?“ „Na, so da unten“. Gut, dass in der Wohnung noch ein Junge war. „Er zeigt es dir in der Badewanne“. Also Vorhaut runter. Onkel Trauer wollte wissen, ob es a) geklappt hatte und b) was das für ein Gefühl war. Er kriegte es zu wissen. Ich weiß noch, wie er mich anguckte. Ich war interessant geworden.
Na? Ist doch was. Willkommen im Club. Jetzt gehöre ich auch dazu. Amelie Fried erinnerte sich an ein kindliches Striptease im Spiegel. Die Freitag-Community könnte sich einstimmen. Und mir fä
mir fällt noch mehr ein. In der Dorfschule machte sich der Lehrer ein Vergnügen daraus, „Hände ausstrecken“ zu befehlen. Dann gab es kräftig was auf die Finger. Mit dem Rohrstock. Zählen wir Entblößung und Züchtigung jetzt auch zum sexuellen Missbrauch? Vor hundert Jahren war der Begriff für Penetration reserviert, oral und anal, ob Kind oder Erwachsener als Opfer. Heute ist die sexuelle Komponente der Gewaltausübung Tagesthema.Missbrauchsbeauftragte installierenWir stehen – und das ist meine Sorge – am Anfang einer inflationären Entwertung des Begriffs sexueller Missbrauch. Der Kinderschutzbund rechnet mit im Schnitt 100.000 Fällen im Jahr. Das wären dann seit Onkel Trauers Bauchfaltenmanipulation von 1943 nunmehr 6.700.000 Missbräuche, die der Aufarbeitung harren. Wenn ich richtig gerechnet habe. Welche Maßnahmen nun zu ergreifen sind, darauf will Schwarzgelb sich bis übermorgen geeinigt haben. Toll, das.Ich habe aber auch was vorzuschlagen, ganz aus der Praxis heraus. Eine Art Doppelpass. Einerseits könnte man in Kitas, Schulen, Heimen, Anstalten Missbrauchsbeauftragte installieren, denen die Kinder ihr Vertrauen schenken dürfen. – Ich weiß, ich weiß, wie soll das gehen, und was, wenn grade die Beauftragten ihre Position ausnutzen, um ... – Also wird es darum gehen, den strukturellen Missbrauch einer institutionellen Missbrauchsaufsicht zu unterstellen. Und die gibt ja schon. Unter diesem Titel. Die deutsche Missbrauchsaufsicht, so ist es gesetzlich geregelt, greift ein beim Ausnutzen einer starken Stellung. Allerdings auf den Markt bezogen (§§ 19 bis 21 GWB, Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen). Es ist weiter nichts zu tun, als das Gesetz auszudehnen, und zwar auf die Beschränkungen der freien sexuellen Entfaltung durch Ausnutzen eines besonderen Gewaltverhältnisses.Strafrechtlich könnte der sexuelle Missbrauch unschwer sanktioniert werden. Durch eine Ausdehnung ohnehin auch hier etablierter Tatbestände wie des Missbrauchs der Amtsgewalt (§ 339 Strafgesetzbuch) und der sexuellen Nötigung unter Ausnutzung einer Amtsstellung (§ 240 Abs. 4 Nr. 3 StGB).Zentrale SuperbehördeGegen den Missbrauch gibt es also, wie ich hoffe, aufgezeigt zu haben, einen detaillierten Repressionsapparat. Man denke nur an Alkohol-, Medikamente- und Drogenmissbrauch, den Kfz-Kennzeichenmissbrauch, den Waffenmissbrauch, den Rechtsmissbrauch und, ja, den Asylmissbrauch. Alles geregelt. Nur an den sexuellen Missbrauch in der Familie, in Heimen und Internaten hat der Gesetzgeber nicht gedacht. An den in Kloster und Kirche auch nicht, darauf konzentriert sich aber jetzt das beliebte Katholikenbashing. Macht doch Spaß, der Hype, ej!Sollen wir also schleunigst den sexuellen Missbrauch in den bestehenden Repressionsapparat reinnehmen? Erreichen wir damit die Familie, die Heime? Nur dann – und das meinte ich mit Doppelpass – wenn die örtlichen, familien- und heimnahen Missbrauchsbeauftragten Verdachts- und Gerüchtsfällen nachgehen, observieren, sich umhören und Meldung machen, wobei ich an eine zentrale Superbehörde (hunderttausend Fälle im Jahr!) denke, die in Berlin säße und sich Missbrauchssicherheit nennte.Schwule Liebe ab null JahrenWas dagegen? Okay. Wie wäre es denn damit: Ich sitze ja vier mal im Jahr für eine Woche mit Vertretern der obersten Landesjugendbehörden zusammen, in Wiesbaden, wo wir Filme, DVDs, TV-Vorabendserien und Computerspiele altersgerecht freigeben oder nicht und immer gucken, ob was jugendgefährdend ist und das womöglich gar schwer. So. Und jetzt die Frage: Gefährdet Sex (in unserem Fall die Bebilderung von Sex) Ihr Kind?Die Antwort: Na klar doch. Sagt jedenfalls die Bewahrpädagogik, und die war seit Adenauerzeiten Fetisch für die Kinder- und Jugendfreigaben und für die sogenannte Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft insgesamt. Genauer: Das war die Antwort gewesen. Denn in den neunziger Jahren gab es einen dramatischen Paradigmenwechsel. Heute ist das Ziel, Kindern und Jugendlichen zur Medienkompetenz zu verhelfen. Dazu gehört durchaus die Fähigkeit, mit der Darstellung von Sex umzugehen, und die gibt es bekanntlich überreichlich und ohne Altersfreigabe, wenn wir die Boulevardpresse mit im Blick haben. Also, liebes Kind, komm, wir müssen reden. Wie das altersgerecht geht, kann man lernen. Auch Sozialpädagogen haben das gelernt. Ergebnis: Die Edition Salzgeber kündigt für den 27. April 2010 eine DVD zum Thema schwule Liebe an, freigegeben für Kinder ab null Jahren. „Rock Haven erzählt eine gefühlvolle und romantische Coming-Out-Geschichte vor der grandiosen Kulisse der nordkalifornischen Küstenlandschaft und greift ein immer noch aktuelles Thema auf: schwule Liebe und religiöse Engstirnigkeit.“Nicht drüber redenWenn wir das Thema Kompetenz nur ein ganz klein wenig weiterspinnen, kommen wir von der Medienkompetenz zur Sexkompetenz und zur Missbrauchskompetenz, womit wir endlich wieder beim Thema dieser Glosse angelangt sind. Ich selbst bin in einer Zeit aufgewachsen, in der mir Angst vor etwas Namenlosen gemacht wurde. Ich war zwölf, und das Wort Missbrauch war nicht gebräuchlich. Meine Mutter warnte mich vor einem Wesen, das in Hamburg Mitschnacker genannt wurde. Was ein solcher mit mir anstellen könnte, blieb ungesagt. Für mich war das eine Art schwarzer Mann, wie er sich auf dem Dorf in Mecklenburg zuvor gezeigt haben sollte. Alle hatten Angst, aber vor was eigentlich, wusste keiner.Wie wäre es, zum Großen Unbekannten den lieben Bekannten (und Verwandten) zu gesellen?Den Familienfrieden will ich nicht stören, Gott bewahre. Aber das Missbrauchsthema altersgerecht zu dosieren und dadurch die Widerstandskräfte für den Krisenfall zu stärken, das wäre doch homöopathisch gesehen okay, oder lassen Sie ihr Kind nicht impfen? Mit etwas muss man doch anfangen. An den runden Tisch kann ich mich nicht setzen, weil es völlig unmaßgeblich ist, was ich mir laienhaft zusammenreime. Expertin ist die Bundesmissbrauchsbeauftragte Christine Bergmann, und die weiß, was sie tut. Ziel des Runden Tisches in Berlin sei die Versöhnung. Opfer und Täter reichen sich die Hand. Bussi. Und Geld gibt es auch noch für den Missbrauch. Und dann reden wir nicht mehr drüber. Brauchen Vati und Mutti nicht zu wissen, unser Geheimnis, gell? „War’s auch nicht zu salzig?“, fragte ich den kleinen Jungen besorgt, „komm, ich putz dir mal dein Schnäuzchen. Hat’s Spaß gemacht? Du hast es doch auch gewollt“. „Ich hab dich lieb, Opa“, sagte der Kleine. Das war im März in Berlin gewesen. Im HAU3 auf der Bühne. Ich war im kleidsamen Talar, Bundesverfassungsrichter. Der Knabe im weißen Minikleid. Und wir spielten den Missbrauch im Stück Der Fall Esra (Angela Richter) nach, genauer das Verbot des Romans von Maxim Biller. Hab ich nun den Missbrauch thematisiert oder nicht? Und hätten Sie so etwas von einem deutschen Verfassungsrichter gedacht?