Und Noah ging in die Arche mit seinen Söhnen, seiner Frau und den Frauen seiner Söhne vor den Wassern der Sintflut ...“ Absatz. Dann: „Jeder weiß, dass es nicht so war.“
Mit diesem Rumms beginnt Die letzte Flut, der ins Phantastische driftende Roman des Kanadiers Timothy Findley. Als habe es keine Massenpanik gegeben, kommentiert der Erzähler die Genesis-Episode höhnisch, als sei niemand zu Tode getrampelt worden, als seien Noah und seine Familie die einzigen Menschen gewesen, die an Bord wollten. Bei Findley wird die biblische Geschichte der Arche Noah zum Holocaust. Nein, eine fröhliche Exkursion sei es nicht gewesen, „[e]s war das Ende der Welt.“
Wenn Tiere in Romanen auftauchen, wird über sie das Wesen des Menschen verhande
esen des Menschen verhandelt, genauer: die Vernunftbegabung des Menschen – und ihre Grenzen. Unter dem Stichwort animal turn rückt dieser Gedanke seit einigen Jahren vor allem in den Geisteswissenschaften verstärkt in den Fokus. Was also liegt in unserer Vorstellungskraft, wie viel fundierte Empathie für Mit-Wesen ist möglich, und wo fangen menschliche Gewaltakte an? Lässt sich Anthropozentrismus abschütteln wie eine lästige Mücke oder ist jedes Sprechen über Tiere letztlich ein Akt des speciesism, jenem neuen, weiter gefassten Rassismus-Verständnis?So ist es kaum verwunderlich, dass Tiere in den vergangenen Jahren als Protagonisten in die Künste zurückkehrten, man denke nur an den Erfolg von Walton Fords großformatigen „Bestiarien“, die der US-Künstler jüngst in Berlin zeigte. Auch hier war das Moment der Säuberung ein durchgehendes Motiv. Und der spanischstämmige Autor Yann Martel, der 2002 für seine erste Tiergeschichte Schiffbruch mit Tiger den Booker-Preis erhielt, greift mit seinem gerade auf Englisch erschienen Roman Beatrice and Virgil dieses Motiv nun ebenfalls auf: die Menschheitshölle.Das absolut AndereCollagenartig schneidet Martel Gustave Flauberts kaltblütige Tiergemetzel-Erzählung von der Legende von Saint Julien dem Gastfreundlichen zusammen mit dem Bühnenstück eines Tierpräparators über den Esel Beatrice und den Heulaffen Virgil. Sie leben in einem Land blau-grau-gestreifter Hemden, umgeben von Tod und „the Horrors“, mit Tätowierungen versehen, kurz vor dem Verhungern. Die verbindende Figur ist der Erfolgsautor Henry, der nach seinem gescheiterten Opus Magnum über den Holocaust in einer Schreibblockade steckt, und zufällig in das Leben des Präparators (ebenfalls Henry) gerät, stundenlang in dessen Laden sitzt, umgeben von Herden ausgestopfter Tiere, darunter auch die realen Gegenstücke von Beatrice und Virgil. In diesem Dante’schen Inferno wird die Vernichtung von Tieren und Menschen nur aus einem Grund nebeneinander montiert: Um die Unfähigkeit zur Empathie mit dem Anderen zu zeigen, wird auf das absolut Andere des Menschen zurückgegriffen, das Tier.Martels Buch reiht sich damit ein in eine Serie von Tierromanen, die sich jener Geschichte annehmen, in der Mensch und Bestie so nah aneinanderrückten: dem Holocaust. Zu den bekanntesten zählen hier sicher Farm der Tiere von George Orwell und die beiden MAUS-Comicbände von Art Spiegelman (1986, 1992), andere wären etwa John M. Coetzees Das Leben der Tiere (1999) oder Der weiße Knochen von Barbara Gowdy (1998). Da werden Tiere eingesetzt, um die perverse Logik binärer Machtstrukturen vorzuführen, die auf Rassenglauben basieren, wie im Falle von Orwells und Spiegelmans Texten. Coetzee löst die Spannung von Holocaust-Schlachthof-Vergleichen über das Primat des Ur-Menschlichen: den Diskurs. Er lässt seine Protagonisten einfach darüber debattieren, Philosophen, Philologen, Physiker und Literaten. Den weitesten Weg geht sicher Barbara Gowdy: Ihr Buch will keine simple Allegorie sein, sie unternimmt den Versuch, aus einer originären Elefanten-Perspektive das menschengemachte Aussterben einer Art zu erzählen.Und dann ist da natürlich Timothy Findleys Arche-Roman, im Original Not Wanted on the Voyage (1984), auf der Reise unerwünscht. Da sind also die, die mitdürfen, und die, die zurückbleiben müssen, eine Segregation in Leben und Tod. Es ist ein Akt der Abjektion, wie Julia Kristeva es nennen würde. Eine Geste, die soziale Räume definiert, Grenzen zieht: Das Wir entsteht, das Andere muss draußen bleiben. Und diese performativen Gesten dienen auch dazu, das Wir als stabile Einheit zu etablieren, stabil im Sinne von klar umrissen, fest, statisch. Alles, was diese fiktive Einheit in ihrer Selbstdefinition erschüttern könnte, gehört in dieser Argumentation abgedrängt, ja ausgemerzt. Kristeva nennt dieses Andere the abject, beschreibt es als infektiös, ordnungzerstörend, unsauber.Die Logik von Nationalsozialismus und Kolonialismus teilte Menschen auf diese Weise in Gruppen: Das arische Wir konstituierte den „gesunden Volkskörper“, der vom „Ungeziefer“ fern gehalten werden musste, eine Infektion mit dem Krankhaften wäre fatal; dem entsprach die Praxis des cordon sanitaire der Kolonialherrscher, genau wie das südafrikanische Apartheidssystem, Und in diesem Sinne wird bei Findley die biblische Flut konsequent als faschistoide Reinigung inszeniert.Tiere sind für Findley mehr als Tiere. Elefanten, Katzen, Kormorane, die, als sei nichts dabei, mit menschlichen Protagonisten kommunizieren; selbst dem Leser ist ihre Gedankenwelt zugänglich.Die unterschwellige Frage stellte der Philosoph Thomas Nagel schon 1974 mit der berühmt gewordenen Wendung: „What is it like to be a bat?“, wie es wohl ist, eine Fledermaus zu sein? Wir können es nicht wissen, beschied Nagel. Uns fehle der Erfahrungshorizont, wir Menschen blieben notgedrungen in unserem anthropozentrischen Weltbild stecken.Daraus folgt die Erkenntnis, dass jede Annahme über fledermäusisches Leben eine Zuschreibung aus menschlicher Perspektive ist. Ein Akt der Definition – und somit ein Akt rhetorischer Gewalt mit realen Folgen. Das Andere ist undurchdringlich, menschliche Kategorisierungen bleiben latente Gewalt. „Albatros“ sei nur unsere Bezeichnung, heißt es in J.M. Coetzees Das Leben der Tiere an einer Stelle: „Ich weiß nicht, wie sie sich selbst nennen.“ Gleiches gilt für vermeintlich fürsorgliche Empathie: Denn wir wissen nicht, wie sie sich fühlen.Moralisch glitschigVom allerersten Text an griff der südafrikanische Literaturnobelpreisträger immer wieder auf das Tier-Motiv zurück, um es als das fundamental Andere einzuführen – und diese Andersartigkeit sogleich in Frage zu stellen. Coetzee konfrontiert die Spezies Mensch mit der Spezies Tier. Sei es über Metaphern, Konversation über Tiere oder einfach Tiere als Tiere, wie auch im Post-Apartheids-Roman Schande. Vor dieser Folie verschwinden bei ihm die Grenzziehungen zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen, Hautfarben, Religionen, Geschlechts. Auch deshalb erbaut er die Welt von Das Leben der Tiere als selbstreflexives Spiegelkabinett, in dem sich Kafkas „Rotpeter“, Rilkes Panther und Swifts Gullivers Reisen mit Tierschutzplädoyers und Holocaust-Debatten zu einem facettenreichen Diskussionsstrang fügen. Die Kernfrage, moralisch glitschig wie immer bei Coetzee: Können wir phantasiebegabten Wesen uns tatsächlich in das Andere, den Anderen versetzen?Um das zu beantworten begab sich Barbara Gowdy sogar einige Wochen auf Safari, um das Wesen der Elefantenherden zu studieren. In Der Weiße Knochen erzählt sie die Geschichte matriarchaler Elefantengesellschaften, die Gruppe für Gruppe von Menschen ausgelöscht werden. Die Erzählerstimmen, Protagonisten sind allesamt Elefanten, andere Steppentiere. Gowdy erfand für sie eine eigene Sprache, eine non-chronologische Zeitwahrnehmung; alles, um eine Gegenwelt zum patriarchalen Anthropozentrismus zu entwerfen. Doch letztlich zeigt gerade dieses Beispiel, wie eine biozentristische Perspektive letztlich immer scheitern muss: Auch der Versuch, mit Tier-Helden Gegenentwürfe zu schaffen, bleibt im Anthropomorphen stecken. Wir schaffen Bilder nach unserem Ebenbild.In Zeiten des animal turn wird der Holocaust immer öfter als Folie für andere gewaltstrotzende Machtgesten benutzt. Geschichten, die mit Post-Holocaust-Argumentation postkoloniale Debatten weiterführen, sind das eine. Doch um vor diesem Hintergrund Natur-Apokalpysen anzuprangern, war das Leiden zu unermesslich.