Vier Morde an Frauen, zwölf versuchte Morde, versuchte Notzucht, ein geschändetes Kind, Körperverletzung, Raub, insgesamt 27 Schwerverbrechen. Das Urteil des Gerichts lautete: lebenslange Haft. Als Heinrich Pommerenke, geboren 1937 in Bentwisch bei Rostock, das hörte, war er überrascht: „Ich wundere mich, dass es nur vier Frauen gewesen sein sollen“, sagte er.
Das „Ungeheuer vom Schwarzwald“ nannten die Zeitungen Heinrich Pommerenke, der Ende der Fünfziger mordend und vergewaltigend durch Baden zog – bis er eines Tages, bewusst oder nicht, die Tasche mit seinem Gewehr bei einem Schneider stehen ließ. Er wurde gefasst, verhört, verurteilt und ins Gefängnis geworfen.
„Im Zuchthaus in Bruchsal werden sich neun Tore
en sich neun Tore öffnen, durch die er gehen muss. In die neunte Hölle Dantes muss er hinein“, formulierte der Staatsanwalt 1960, was der Volksmund bis heute in einfacheren Worten fordert: Sperrt solche Täter für immer weg! Zwar bezeichnete das Bundesverfassungsgericht diese Devise später als verfassungswidrig. Der Staatsanwalt sollte dennoch Recht behalten.Detailliert recherchierte TatenHeinrich Pommerenke blieb bis zu seinem Tod im Jahr 2008 im Gefängnis. Während die meisten Mörder nach 15 Jahre freikommen, gaben die Behörden Pommerenke keine positive Sozialprognose. So wurde er zu dem am längsten einsitzenden Häftling in der Bundesrepublik Deutschland – und zu einem Beispiel, das zeigt, was Haft ohne Aussicht auf Freiheit mit einem Menschen macht. Der Journalist Thomas Staisch hat darüber ein Buch geschrieben, das sich liest wie ein Roman.Es ist ein anstrengendes Buch. Aber was ist schon einfach an dem Schicksal eines Mannes, der nicht zum Tod durch den Strang verurteilt wurde wie die Mörder in Truman Capotes Tatsachenroman Kaltblütig, sondern zum Sterben hinter Gittern? Eines Mannes, der Frauen vergewaltigt und umgebracht hat, meist in dieser, manchmal auch in der umgekehrten Reihenfolge? Eines Mannes, von dessen Menschenwürde nur noch Verfassungsrichter und einige wenige Aktivisten sprachen?Staisch löst die Zeitenfolge der von ihm bis ins Details recherchierten Taten und Lebensdaten Heinrich Pommerenkes auf. Der Erzählfluss wechselt beständig zwischen nüchternen Faktenreihen, meist ausgewiesenen literarischen und selten markierten Zeitungszitaten. Damit nähert er sich schon in der Form dem schleifenhaften Denken und der bruchstüchhaften Wahrnehmung eines Menschen, der Jahrzehnte in der eindrucksarmen Welt von Justizvollzugsanstalten verbringt. „Nach spätestens zehn Jahren ist das Gehirn eines Häftlings Gemüse, nur noch Gemüse“, wiederholt Staisch auf den 345 Seiten fünf Mal eine Aussage jenes Gefängnispfarrers, der im Laufe der Jahre zum Freund und Fürsprecher des Serienmörders wurde.Es ist ein Verdienst des Buchs, dass es einen Menschen beschreibt, der gemordet, vergewaltigt, geschändet hat – und der dennoch ein Mensch blieb. Mit seinem Anspruch begibt sich Staisch auf einen Grat, den schon Capote beschritten hat, dem Staisch aber freilich nicht immer nachkommt. Immerhin: Kurz bevor sich der Leser nach zwei Dritteln der Lektüre fragt: Wo bleiben die Opfer?, widmen sich einige Kapitel ihrem Schicksal. Kürzer selbstverständlich als der Rest über das Leben des Mörders, aber doch ohne etwas zu beschönigen.Für die Überlebenden umso schwerer erträglich und für Unbeteiligte zumindest überheblich wirkt die Pointe, die sich der Autor für den letzten Satz seines Buchs ausgedacht hat. „Ich danke Heinrich Pommerenke für sein Leben“, schreibt Staisch in einer nachgestellten Danksagung. Es ist ein Satz, der auf eine der zwei Schwächen des Buchs hinweist: Um des rhetorischen Effekts willen, bläst es zuweilen Sätze unnötig auf. Das fällt schon allein deshalb auf, weil der Text sonst mit einer schon Ehrfurcht einflößenden Präzision arbeitet.So zeigt Staisch, was nicht stimmt von dem, was vor Gericht über Pommerenke gesagt wurde. Dass beispielsweise gar nicht eine Szene des Films Die 10 Gebote den direkten Anstoß für einen seiner Frauenmorde gegeben haben kann. Einfach deshalb, weil am Tattag kein Kino diesen Film im Programm hatte, vom dem aus Pommerenke sein Opfer rechtzeitig hätte erreichen können.Ein Stakkato der TatsachenJemand, der etwas derartiges beweisen kann, braucht keine Absätze wie diesen: „Linksaußen und Torhüter sind nicht verrückt, aber die Unangepassten, die unfreiwillig Komischen, die Unschuldigen, die Unfassbaren. Er, der Torwart und spätere Totmacher, war ein bisschen von allem (...) Die Angst des Tormanns vor dem letzten Elfmeter.“Lässt sich der Leser jedoch auf diese Sprache ein, kann er sich von der steten Wiederholung weniger, anspielungsreicher Parolen, vom Stakkato der Tatsachen, dem Malstrom der Perspektivwechsel hinforttragen lassen. Mit allen Gefahren der Überidentifikation, aber auch den Erkenntnismöglichkeiten, die ein Erzählverfahren bietet, das den Leser nicht nur einen Text über ein Thema zu lesen geben, sondern mitnehmen will auf den Trip des Protagonisten.Im vorliegenden Fall ist dieses Verfahren allerdings auch die Ursache für die zweite Schwäche des Buchs: Es behindert tendenziell die Einordnung des geschilderten Einzelfalls in den ihn bestimmenden Diskurs. Zwar mag die zurzeit geführte Debatte um die Sicherungsverwahrung im Kopf des Lesers als Subtext mitlaufen, wenn er über Pommerenkes Leben liest. Auch das aktuelle Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erwähnt Staisch brav. Doch muss er es bei weniger als vier Seiten Einordnung belassen, wenn er keinen irritierenden Bruch im Erzählton erzeugen willUnd so wird Staischs Buch für die Gegner der lebenslangen Sicherungsverwahrung wohl nicht die Wirkmacht erlangen, die Capotes Kaltblütig für die Gegner der Todesstrafe hatte. Das Buch ermöglicht aber eine Erkenntnis. Und vielleicht ist diese Erkenntnis auch nicht wenig wert: Dass sich die Humanität einer Gesellschaft nicht allein schon darin beweist, dass sie ihre Schlächter am Leben lässt.