Der Schriftsteller Burkhard Spinnen hat eine für die Männerwelt niederschmetternde Erfahrung gemacht: In der Schule wird die Literatur nicht nur des Artikels wegen, sondern generell als weiblich wahrgenommen. Im Gegensatz zu Naturwissenschaften und Mathematik gilt sie als zu nichts nütze. Mit ihr kann man doch weder Prestige sammeln noch viel Geld verdienen. Wie falsch! Die Beschäftigung mit literarischen Texten bildet eine der wichtigsten Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens überhaupt: den qualifizierten Umgang mit der Sprache. Ohne den gibt es aber weder einen guten Job noch gutes Geld. Gleichzeitig ist die Schule einer der wichtigsten Orte des literarischen Lebens überhaupt. Nicht selten sind die, die ein Leben lang lesen, vom Deutschlehrer dafür b
Kultur : Haben Sie die alle gelesen?
Bücherwürmer und Leseratten! Hier gibt es neuen Lesestoff, ganz speziell für Euch: Umberto Eco, Hubert Winkels, Burkhard Spinnen
Von
Fokke Joel
r begeistert worden. Lesen in der Schule bedeutet damit praktischer Einsatz für die literarische Kultur.Aber was heißt es, in der Schule vor Kindern zu lesen, fragt der Autor in Auswärtslesen. Mit Literatur in der Schule? Eine Litanei Wie macht man das am besten? Spinnens kleines, lesenswertes Buch versucht, diese Fragen zu beantworten – und beantwortet damit zugleich grundlegende Fragen des Lesens und der Literatur. Wichtig ist ihm die richtige Vermittlung der Körperlichkeit von Literatur. Was aber soll an abstrakten Buchstaben körperlich sein? Es ist das im Text geronnene Leben, so Spinnen, das in der Stimme des Vorlesers, in seiner Gestik, kurz in seinem ganzen Auftreten zu Tage tritt. Lesen, den Kindern nah sein, indem man durch die Gänge des Klassenraums geht, nicht den Zampano spielen, denn das geht auf Kosten der Glaubwürdigkeit des Textes – dann seien die Chancen groß, so Spinnen, dass man auch Kinder für Literatur begeistert. Selbst ein wenig Literaturtheorie wäre dann möglich.Sammelleidenschaft„Warum, frage ich meine Zuhörer, bin ich eigentlich zu euch zum Vorlesen gekommen? Lesen könntet ihr doch selbst. ... Die Antworten führen in der Regel schnell und zuverlässig in die richtige Richtung: Eine Vorlesung ist wie ein Konzert.“ Begeisterung für die Literatur, das ja, aber auch für Bücher? Zwar hat mit der Verbreitung des Internets, mit Facebook und E-Mail die Notwendigkeit zum Lesen (und zum Schreiben) ganz entgegen den allgemeinen Erwartungen zugenommen. Aber die Frage geistert bei jeder Buchmesse wie ein Mantra durchs Feuilleton: Bedeutet die Einführung dieses oder jenes neuen elektronischen Readers das Ende des Buches?Nein, sagt Umberto Eco zu seinem Gesprächspartner, den Drehbuchautor und Regisseur Jean-Claude Carrière. Das wäre eher eine fixe Idee der Öffentlichkeit oder der Journalisten, die meinen, ihre Leser hätten diese fixe Idee. „Das Buch ist wie der Löffel, der Hammer, das Rad oder die Schere: Sind diese Dinge erst einmal erfunden, lässt sich Besseres nicht mehr machen.“ An anderer Stelle sagt er dann allerdings auch: „Entweder – oder: Entweder bleibt das Buch materieller Träger des Lesens, oder es wird etwas geben, das dem gleicht, was das Buch seit jeher war, schon vor der Erfindung des Buchdrucks.“Die Gespräche der beiden Denker sind unter dem befremdlich pathetischen Titel Die große Zukunft des Buches auf Deutsch erschienen, was zumindest irreführend ist, denn Eco und Carrière sind sich darüber einig, dass sie die Zukunft nicht voraussagen können. Eher steht die Vergangenheit des Buches im Zentrum der Gespräche, mit deren Erkenntnis die beiden dann allerdings ein paar Vermutungen über dessen künftige Bedeutung anstellen. Ob sie groß ist? Nun, das erfährt der Leser leider nicht.Stattdessen plaudern die beiden Bücherfreunde über Interessantes rund ums Buch. So berichtet Eco, dass bis zum Heiligen Ambrosius, der im 4. Jahrhundert nach Christus lebte, laut gelesen wurde. Eine Eigenart, die, wie Burkhard Spinnen in seinem Buch schreibt, jeder zur Überprüfung eigener Texte anwenden sollte. Im Vorlesen treten die Schwächen und Fehler sehr viel deutlicher zutage. Natürlich ist auch die Sammelleidenschaft der beiden ein Thema. Umberto Eco sammelt vor allem solche Bücher, die von Autoren verfasst wurden, die sich geirrt haben. Carrière meint, dass die Dummheit als Quelle von historischen Informationen unterschätzt worden ist. „Wenn der erzreaktionäre Monseigneur de Quélen während der Restauration von der Kanzel in Notre-Dame herab einem Publikum von Aristokraten, die in der Mehrzahl nach Frankreich heimgekehrte Emigranten waren, erklärt: ‚Jesus Christus war nicht nur der Sohn Gottes, sondern er stammte auch mütterlicherseits aus bester Familie‘, sagt er uns damit eine Menge Dinge, nicht nur über sich selbst, was nur bedingt von Interesse wäre, sondern über die Gesellschaft und Mentalität der Zeit.“Wer mehr als ein paar hundert Bücher hat, kennt die Frage, die den beiden Sammlern immer wieder gestellt wird: Haben Sie alle diese Bücher auch gelesen? „Wenn man mich fragt“, sagt Umberto Eco, „ob ich dieses oder jenes Buch gelesen habe, antworte ich immer: ‚Wissen Sie, ich lese nicht, ich schreibe‘. Da verstummen alle.“ Auch Hubert Winkels, der aus der Sendung Büchermarkt des Deutschlandfunks bekannte Literaturkritiker, gibt freimütig zu, nicht alle seine Bücher gelesen zu haben. In seinem Haus in Düsseldorf stehen die Bücherregale selbst in der (möbliert) vermieteten Souterrain-Wohnung. Beinahe hätte es dort eine Katastrophe gegeben, als sich ein Abflussrohr verstopfte und die Bücherregale zu fluten drohte. In einer konzertierten Aktion konnte Winkels seine Bücher gerade noch in ein höher gelegenes Stockwerk evakuieren.Die Stimme der FrühromantikNeben diesen autobiografischen Einschüben geht es in Winkels Buch um Autoren, Literatur und Literaturkritik, auch wenn hier der Titel abermals eigenartig ist; offenbar grassiert in der Verlagsszene die Angst, keiner würde Bücher mit sachlichen Titeln kaufen. Kann man Bücher lieben? musste Winkels Sammlung mit Kritiken, Porträts und Vorträgen heißen. Vielleicht dachte die Marketingabteilung des Verlages, dass die Buchhändler solch ein Buch eher unter die immer gut gehenden Ratgeber einordnen würden. Im Text handelt Winkels den Titel kurz ab, indem er den früheren Bundespräsidenten Heinemann zitiert, der einmal auf die Frage, ob er Deutschland liebe, antwortete: „Ich liebe meine Frau.“ „Heute kann man alles lieben“, schreibt Winkels den Titel ironisierend, „man soll, man muss alles lieben, von seinem PKW bis zu seiner Zahncreme, vom Schaum auf dem Kaffee bis zum rußfreien Gaskamin in Flaschenform“.Zum Glück haben dann die im Buch versammelten Texte mehr zu bieten, als der Titel erwarten lässt. Wenn die Sammlung an Kritiken und Vorträgen auch heterogen wirkt, so verbindet sie doch die Beschäftigung mit der aktuellen Literatur. Von der Sprachmächtigkeit des Feridun Zaimoglu, über ein persönliches Porträt des früh verstorbenen Dichters Thomas Kling bis zu amerikanischen Literatur. Auch der Zeit-Artikel über Gnostiker und Emphatiker in Literatur und Kritik, der einen kleinen Sturm im deutschsprachigen Feuilleton ausgelöst hatte, ist in dem Buch enthalten. 2007 erhielt Winkels den renommierten Alfred-Kerr-Preis. Er nahm seine Preisrede zum Anlass, um den von ihm angezettelten Streit um die Gnostiker und Emphatiker zu reflektieren und zu entschärfen. Dabei kam er zu Resultaten, die hoch aktuell sind. Die Zeiten, sagt Winkels, in denen auf dem Rücken der Literatur ideologisch geprägte Kämpfe ausgefochten wurden, seien zum Glück vorbei. Heute herrsche in der Kritik ein Mehr an Abgeklärtheit, Genauigkeit, Reflexion und Distanz, kurz: an Zivilität auch in ästhetischen Dingen.Weniger Polemik, mehr Differenziertheit auch im Umgang mit einem Werk: So kann man über Günter Grass sagen, dass er seit 30 Jahren ein literarisches Nachleben führt, ohne den genialisch frühen Auftritt des Autors der Blechtrommel zu vergessen. Auch Verfemte und Verfemtes werden ja verstärkt gelesen und gewürdigt. Man denke an Ernst Jüngers Tagebücher, ja selbst an seine konservativ-revolutionären Essays aus den Zwanzigerjahren. Oder Brechts Maßnahme. Wir haben umgeschaltet von ideologischer, auch stilideologischer Außensteuerung auf immanente Textsteuerung, sagt Winkels. Diese Versachlichung hat allerdings zu einem Problem geführt. Mit ihr hat es gleichzeitig eine Tendenz zu einer rein subjektiven, ja narzisstischen Literaturkritik gegeben: „Von den allgemeinen Gesetzen im Kunstwerk haben wir längst Abschied genommen, doch sind wir allzu schnell am anderen Ende der Skala angekommen, der Behauptung schierer Subjektivität: Schön ist, worin ich mich selber sehe.“Wie aber kommt der Kritiker aus diesen Untiefen der rein subjetiven Kritik hinaus? Könnte er nicht, so soll hier gefragt werden, an Walter Benjamins Versuch anschließen, den frühromantischen Begriff der Kunstkritik für die zeitgenössische Kritik fruchtbar zu machen? Für Friedrich Schlegel und Novalis war das Kunstwerk ein Reflexionsmedium, das sich im Leser/Betrachter quasi selbst weiterdenkt. Sie hatten das auch mit dem Begriff des Romantisieren bezeichnet, der oft subjektivistisch missverstanden worden ist. Stattdessen meinte er bei Schlegel: „Es ist schön und notwendig, sich dem Eindruck eines Gedichtes ganz hinzugeben ... und etwa nur im Einzelnen das Gefühl durch Reflexion zu bestätigen und zum Gedanken zu erheben und ... zu ergänzen ... Aber nicht minder notwendig ist es, von allem Einzelnen abstrahieren zu können, das Allgemeine schwebend zu erfassen.“Wie hatte Jean-Claude Carrière im Gespräch mit Umberto Eco gesagt? „Ein großes Buch bleibt immer lebendig. Jede Lektüre verändert das Buch natürlich, wie die Ereignisse, die uns zustoßen. Es wächst und altert mit uns, ohne je zu sterben.“ Allerdings weiß der Kritiker ja nicht a priori, welches Buch wachsen könnte und welches nicht. Es herauszufinden, ist eine seiner Kernaufgaben. Aber wer bezahlt ihn dafür, dass er zunächst die Neuerscheinungen liest, um dann zu entscheiden, welches Buch sich auf diese Weise näher zu kritisieren lohnt?Ja wer? Eine Literaturkritik, die nur über Bücher schreibt, von denen sie überzeugt ist, das wäre eine Kritik, die sich gewaschen hat. Eine Kritik, die von der Sprache, den Ideen, Figuren und Plots eines Werks inspiriert wird, sie interpretiert und weiterdenkt. Keine Jubelkritik, weil das irgend jemand will, sei es ein Redakteur oder ein innerer Zwang, sondern echte Emphase. Getragen von der Begeisterung für Bücher, die der Leser gerne in seine Sammlung einreiht und aus der er dann zu gegebener Zeit, vielleicht, seinen Kindern vorliest.