Mit einem Vorurteil muss man gleich mal aufräumen: Scheherazade, die Erzählerin der Nacht, war kein Opfer. Sie erzählte und erzählte und eroberte sich mit jeder Geschichte mehr Macht. Sie, die um ihr Leben fabulierte, jede Nacht, fast drei Jahre lang, kehrte die Hierarchie um. Diese narrative Strategie rettete sie buchstäblich: Der, der sie köpfen wollte, war ihr am Ende verfallen. Scheherazade wurde unsterblich.
Es ist also die Geschichte einer anti-patriarchalen Ermächtigung, ganz entgegen dem Bild der zum Schweigen verurteilten, unterwürfigen, unsichtbaren Frau aus der arabisch geprägten Welt. Verknappt man diese Legende zur Formel „Geschichtenerzählerin aus 1001 Nacht“, findet man eine ganze Reihe junger Autorinnen, die diese
die dieser Tage über ihre türkisch-arabische Verfasstheit schreiben – die neuen Scheherazades haben Hochkonjunktur. Nicht zuletzt, seit sich die sogenannte westliche Welt gezwungenermaßen mit der islamisch geprägten Kultur, dem „Orient“, auseinandersetzen muss. Bleibt zu fragen, wofür diese orientalische Autorinnenwelle steht.Denn der Orient ist ja, man weiß es nun langsam, eine Erfindung des Westens: erfunden, um sich selbst als stabile Einheit in Opposition setzen zu können. Für dieses kulturhistorische Verhältnis des Westens zum östlichen Rest der Welt fand Edward Said den Begriff Orientalismus: als eurozentrische Wahrnehmung eines vermeintlich grundlegend Anderen, unüberbrückbar Fremden – eine klassische Angstreaktion.Wie aber anders über die islamisch geprägte Kultur sprechen? Schaut man sich die Debatten rund um das Thema Integration an, wird klar: Die öffentliche Deutungshoheit liegt in der Regel nicht bei jenen, über die gesprochen wird. Umso bemerkenswerter also, dass in den vergangenen Wochen gleich ein halbes Dutzend Bücher von Frauen erschienen sind, die genau das tun: Sie sprechen selbst. Über ihr Leben, geprägt von der türkisch-arabischen Kultur, mit der sie und mehr noch ihre Vorfahren aufgewachsen sind. Sie schreiben aus Teheran und Berlin, aus Istanbul und den USA. Ob Parsua Bashis Briefe aus Teheran, Güner Yasemin Balcis Arabqueen oder Alia Yunis’ Feigen aus Detroit, ob Sineb El Masrars Muslim Girls, Elif Shafaks Als Mutter bin ich nicht genug oder, mit Einschränkung, Sila Sönmez Das Ghetto-Sex-Tagebuch, egal auch ob Roman oder Sachbuch, allen ist eins gemein: Wie einst Scheherazade ermächtigen sich die Autorinnen zu Sprecherinnen in eigener Sache. Um es ganz klar zu sagen: Es sind die Frauen unter den „MiMiMis“ (taz), den Mitbürgern mit Migrationshintergrund, die schreiben. Die Männer dagegen halten sich auffällig zurück mit dem Deutungshoheit-Zurückerobern.1001 Nacht zeigt, dass Erzählen eine Überlebensstrategie sein kann. Wer Geschichten erzählt, hält Geschichte lebendig. Der Tonfall der mündlichen Überlieferung wird auch in den sechs aktuellen Büchern laut: Geschichten, in denen eine „Ich“ ihr Leben erzählt. Mal als Rahmen, mal als Teil der Dramaturgie, wie etwa bei Alia Yunis’ Protagonistin Fatima, die weder lesen noch schreiben kann. Es ist dieser persönliche Zungenschlag, der eine Brücke schlägt. Man fühlt sich angesprochen.Kaleidoskopisches BildDie Autorinnen stellen den heutigen Alltag ins Zentrum ihrer Erzählungen; Alltag – das kennt jeder, kulturübergreifend, in ihm zeigt sich Allgemeingültiges. Besonders deutlich wird das bei Parsua Bashis Briefe aus Teheran. Die iranische Graphikdesignerin, die lange in der Schweiz gelebt hatte, und noch vor drei Jahren mit Nylon Road eine autobiographisch geprägte Graphic Novel veröffentlichte, erzählt nun mit ernüchternder Präzision, wie das normale Leben in Teheran funktioniert, in das sie nach der Grünen Revolution 2009 zurückgekehrt ist. Vom Mietmarkt über Fast Food-Läden, wo sich die Halbstarken treffen, über Taxifahrten, Lebensmittelpreise und der Frage, wie man sich für Sittenwächter unsichtbar macht, ist ihr alles erzählenswert. Tenor: Das machen – fast – alle so. Beim Lesen stellt sich ein Wiederkennungseffekt und zugleich das Gefühl der Differenz vom Altbekannten ein.Güner Yasemin Balcis Roman ArabQueen. Oder der Geschmack der Freiheit wiederumschneidet gleich zwei deutsche Realitäten in ihren Extremen gegeneinander: die von Lena, einem Teenager aus links-frankophilem Elternhaus im Berliner Wedding, Typ Gutmenschentum; und die von Mariam, einer gleichaltrigen Deutschtürkin aus der Nachbarschaft, die zu einer jener Familien gehört, die in der deutschen Öffentlichkeit mit Zwangsheirat und Ehrenmord assoziiert werden. Am Ende flieht Mariam in letzter Sekunde, unter neuer Identität fängt sie in einer fremden Stadt neu an. Der Clash von Lenas und Mariams Alltag könnte nicht stärker sein.In ihren Erzählungen fächern die Autorinnen das Bild eines homogenen Frauenbildes in ein kaleidoskopisches auf; Deutsch-Türkin ist nicht gleich Deutsch-Türkin, Muslima nicht gleich Muslima, Kopftuchträgerin nicht gleich Kopftuchträgerin. Auf dieses kaleidoskopisch-schizophrene Ich, das aus der feministischen Literaturtheorie nicht mehr wegzudenken ist, baut die türkische Schriftstellerin Elif Shafak ihren autobiographischen Text auf. Multipersonalität, Kulturenmosaike, heißen die Elemente, die auch ihre Romane seit jeher zum Schillern bringen, sei es Der Bastard von Istanbul (2007) oder Die Heilige des nahenden Irrsinns (2005). Und nun also ein Sachbuch: Als Mutter bin ich nicht genug ist geprägt von Shafaks innerer Vielstimmigkeit und ihrer Rolle als Erzählerin und Frau. die an einer postnatalen Depression leidet. Die Rollen als Mutter und als Autorin kollidieren, ihre kulturelle Heimatlosigkeit zwischen Orient und Okzident, zwischen Frankreich, Spanien, Türkei und USA wird ihr zum ersten Mal zur Last. „Ich bin eine Nomadin, seit meiner Kindheit“, sagt Shafak. Die Wieder-Aneignung ihrer neuen, weiter zersplitterten Erzählstimme rettet sie am Ende aus dem nachtdunklen Loch. Wieder einmal.Die große UntoteEinen ähnlichen Effekt erzeugt Sineb El Masrar mit einer spannungsgeladenen Doppelbewegung: So vereinnahmt die 1981 in Hannover geborene Autorin elegant alle weiblichen „MiMiMis“, wenn sie von „uns Muslim Girls“ spricht – jedoch nur, um sie dann genüsslich in ihre einzelnen Lebensmodelle aufzudröseln. Die zitat- und zahlenreiche Bestandsaufnahme von Muslima-Realitäten in Deutschland demonstriert pointiert, dass ein Frauenstereotyp ebenso zu kurz greift wie das Wort Kopftuch die Unterschiede zwischen Burka, Niqab, Hidschab und Tschador negiert.Die krasseste Widerlegung eines Stereotyps knallt einem die Jungautorin Sila Sömnez vor die Nase: Ihre Figur Ayla ist ein promiskuitives Gör, das Ghetto-Sex-Tagebuch ein „Ätsch-Bätsch“ in Romanform. Ayla geht aufs Gymnasium, Religion spielt in ihrem Leben keine Rolle. Und bis auf die Figurennamen, Familiengeschichten von „Damals“ über Zwangsehen oder türkische Wortsprengsel wie „lütfen“ oder „haydi“, spielt der Migrationshintergrund in Aylas Geschichte so sehr keine Rolle, dass man vermuten muss: Diese Kombination aus „Sex“, „17-jährige Türkin in Plattenbausiedlung“ und Kanaksprak ist reines Kalkül zwecks Steigerung der Auflage – zumal der Text selbst eher dünnlich ist.Unter dramaturgischen Gesichtspunkten ist Alia Yunis’ Neu-Interpretation der Scheherazade sicher die interessantere dieser Neuerscheinungen: Sie schickt Scheherazade als Untote allabendlich der alten Fatima vorbei, die in 1001 Nächten der großen Erzählerin ihrerseits ihr Leben erzählt. Es sind Fatimas letzte 1001 Nächte vor dem Tod. Es gilt, ihre Geschichte zwischen dem Libanon und Detroit zu erzählen, damit sie überdauern kann. Und auch die Heterogenität migrantischer Identitäten ist selten so elegant aufgegriffen worden wie in Feigen aus Detroit: dargestellt von der Familie selbst, den zwei Ehemännern, zehn Kindern, 14 Enkeln und zwei Urenkelinnen Fatimas, alle fest verankert im fundamentalen Dazwischen. Am Ende bleibt nur eine Gewissheit: Es gibt 1001 „MiMiMi“-Identitäten. Mindestens.