Ohne Opferblabla

Kulturkommentar In Polen sieht man sich als Helfer und Lebensretter im Holocaust. Die Autorin Bożena Keff dekonstruiert diesen Mythos mit einem grotesken Stück

Die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus war in Polen bis lange nach der Wende ein tabuisiertes Thema. Zurecht beanspruchte das Land nach dem Zweiten Weltkrieg den Opferstatus. Bedenklich war jedoch, dass die polnische Gesellschaft dahingehend manipuliert wurde, die antisemitischen Erscheinungen im eigenen Land zu ignorieren oder gar den Holocaust zu „polonisieren“. Ein durchschnittlicher Abiturient verließ vor 1989 die Schule mit dem Wissen, dass im Holocaust ca. 6 Millionen Polen umgekommen sind.

Die Rolle der Polen im Holocaust-Geschehen wurde einseitig als die der Helfer und Lebensretter gesehen. Die Problematik der Kollaboration mit den Nazi-Besatzern von polnischer Seite drang nicht ins gesellschaftliche Bewusstsein, da weder die offizielle sozialistische Propaganda noch die Kirche Interesse daran hatten. Die polnische Nachkriegsliteratur hat hingegen schon sehr früh die simple Teilung in Opfer und Täter in der Holocaust-Dynamik in Frage gestellt, so zum Beispiel Tadeusz Borowski in seinen Aussschwitz-Erzählungen.

Bożena Keffs bilderstürmerisches Stück über Mutter und Vaterland, das 2008 in Polen erschien und jetzt in der deutschen Übersetzung im Leipziger Literaturverlag vorliegt, stellt die Opfer-Täter-Kategorisierung noch radikaler auf den Kopf und zeigt den Antisemitismus und die Ausgrenzung anderer Minderheiten im heutigen Alltags­leben. In diesem gelten, so Keff, keine Regeln der politischen Korrektheit, es dürfen „harmlose“ Judenwitze gemacht bzw. ideologische Feinde als Juden denunziert und geächtet werden. Bożena Keff, eine polnische Jüdin, ist Philosophin, Dichterin und Universitätsdozentin. Ihre Mutter hat sich im Krieg gerade noch retten können, der Rest der Familie ist im Holocaust umgekommen. Keffs Vater hat sich das Leben genommen, als sie 6 Jahre alt war. Doch der Anti­semitismus ist nur ein Thema des Buches, das andere sind die psycholo­gischen Folgen des Holocaust. Die (jüdische) Mutter ist in diesem zutiefst ironischen, grotesken Stück ein sadistisches Ungeheuer, das die erlittene Gewalt an die Tochter weitergibt. Keff gehört zu der zweiten Generation der „Holocaust-Kinder“; sie haben es besonders schwer, sich zu den Holocaust-Folgen zu äußern, weil sie damit gleich zwei sakralisierte Instanzen angreifen müssen, die Opfer und die (eigenen) Eltern. Zu ihnen gehörte etwa auch Art Spiegelmann (USA) mit seinem Kult-Comic Maus, an den Keff anknüpft. Der höhnische Ton und das Enthüllen gesellschaftlicher Tabus bringen Keff wiederum in die Nähe der Narrationen von Elfriede Jelinek. Der sarkastische Humor, aber auch gezielt eingesetzte Vulgarismen sind bei ihr ein Mittel des Protestes und eine Überlebensstrategie. Diese umstrittene Art, den Holocaust zu reflektieren, gibt ihr auch die Möglichkeit, die zum „Blablabla“ erstarrte Leidensnarration der ersten Generation, sei es durch karikaturhaftes Nachäffen, sei es durch blasphemische Provokation wieder lebendig werden zu lassen. Keff nimmt sich das Recht, anzuklagen und sich als Jüdin und als Tochter zu verteidigen. Obwohl Keff an den Heiligkeiten der polnischen Kultur (Polen als Opfernation, Mutter als unantastbare Autorität) rüttelt, wurde ihr Stück 2009 für den prominentesten Literatur-Preis in Polen (Nike) nominiert und bereits zweimal auf die Bühne gebracht. Das macht Hoffnung.

Stück über Mutter und Vaterland, Bożena Keff, Leipziger Literaturverlag 2010. 80 S., 14,95

Brygida Helbig-Mischewski ist Kulturwissenschaftlerin und lehrt an der HU Berlin

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