"'Hier ist gut sein!' sagte Goethe, und ließ halten, 'Ich dächte, wir versuchten, wie in dieser guten Luft uns etwa ein kleines Frühstück behagen möchte.'" Diese Sätze aus Eckermanns Gesprächen mit Goethe zitiert Jorge Semprún im "nullten" Kapitel seines 1980 veröffentlichten Erinnerungsbuches Was für ein schöner Sonntag! Dieser Ort, an dem Goethe und Eckermann im September 1827 ihr Frühstück im Grünen einnahmen, war ein Buchenwäldchen am Ettersberg im thüringischen Städtchen Weimar. Im Januar 1944 wird Semprún selbst an genau diesen Ort deportiert, unter völlig anderen Umständen. Hier ist längst gar nicht mehr gut sein, hier steht nun das KZ Buchenwald, das erst Ettersberg heißen
Kultur : Ein exemplarischer Europäer
Jorge Semprún ist tot: Mit dem spanischen Autor, der seine meisten Bücher auf Französisch verfasste, verliert Europa einen seiner wichtigsten Intellektuellen
Von
Ekkehard Knörer
berg heißen sollte (wie Semprún selbst rekonstruiert), wegen der Assoziation dieses Namens mit Weimar und Goethe dann den unverfänglicheren Namen bekam, unter dem es nun für immer in der europäischen Verbrechensgeschichte verzeichnet sein wird.Höchste Kultur und äußerste Barbarei am einen und selben Ort: Nüchtern beschwört das Erinnern das Nebeneinander als geschichtliches factum brutum herauf. Dass das eine zum anderen führen kann, dass das eine mit dem anderen zusammenhängt, das ist das Skandalon, um dessen Verstehen und gegen dessen Wiederholung Jorge Semprún mit seiner aktiven, ja aktivistischen Erinnerungsarbeit zeitlebens kämpft. Der Anachronismus wird darum mehrfach, unter anderem in einer bizarren Szene in Was für ein schöner Sonntag! zur Darstellungsmethode. Goethe höchstselbst sucht das KZ Buchenwald auf, Semprún fungiert nun als sein Eckermann und muss dabei den konservativen Geheimrat und Dichter als jemanden erleben, der die Vorgänge in Hitlerdeutschland nicht begreift und nicht fasst: "Goethe hatte beschlossen, dem neuen Regime gegenüber eine Haltung verständnisvoller Sympathie einzunehmen, eine Haltung, die völlig in Übereinstimmung mit der Verhaltensweise während seines ganzen Lebens war, wenn man unbefangen darüber nachsinnt."Häftling S 44904Jorge Semprún selbst stammte aus kultiviertesten Verhältnissen und hatte eine weltoffen-europäische Erziehung genossen, sprach neben spanisch und französisch auch deutsch, was ihm nicht zuletzt in Buchenwald sehr zugute kam. Sein Großvater Antonio Maura war Ministerpräsident Spaniens gewesen, fünf Mal sogar, zuletzt noch im Jahr 1922. Der Vater stand als Diplomat auf der Seite der Republik, die Familie ging während des Bürgerkriegs erst nach Den Haag, dann nach Paris ins Exil. Mit 18 schließt sich Jorge Semprún im Jahr 1941 der Résistance an, tritt im Jahr darauf in die kommunistische Partei Spaniens ein, wird 1943 gefasst und gefoltert und 1944 deportiert. Er überlebt, nimmt nach dem Krieg seinen Wohnsitz in Paris, wird dort und auf vielen heimlichen und lebensgefährlichen Reisen nach Spanien zu einem der wichtigsten Organisatoren des kommunistischen Widerstands gegen Franco. Es kommt zum Streit mit den Stalinisten in der Partei, im Jahr 1964 schließt sie ihn aus. Der Stalinismus als barbarische Wendung des Kommunismus wird ein zentrales Thema seiner literarischen Texte. Mit dem Ausschluss aus der Partei endet die aktive politische Arbeit, erst viel später, unter Felipe González, wird Semprún als Parteiloser zum Kulturminister Spaniens ernannt. Diese Form von Realpolitik erträgt er schwer, geht nach drei Jahren im Zwist.Gleich mit dem ersten Buch Die große Reise gewinnt er den angesehenen Prix Formentor und macht sich als Schriftsteller einen Namen. Die Formulierung hat in seinem Fall ganz besondere Implikationen. In den Jahrzehnten davor war Semprún als Politaktivist ein Mann der vielen verschiedenen Identitäten gewesen. Als Gérard war er den Mitgefangenen im Konzentrationslager bekannt, in den Augen der Macht ist er freilich wie alle anderen auf die bloße Nummer - Häftling S 44904 - reduziert. Semprúns Namen im Widerstand gegen Franco lauten dann Federico Sanchez oder Juan Larrea. In einem Interview erklärt er viel später: "Ich hatte mich völlig daran gewöhnt, unter falschen Namen zu leben. Wenn man mich bei meinem eigenen Namen rief, reagierte ich nicht, das wäre äußerst gefährlich gewesen in dieser Zeit."Europäischer IntellektuellerIn den meisten seiner Werke bleibt die Genrezuordnung bewusst unklar: Autobiografischer Roman heißt es meist, raffiniert kreuzt Semprún immer wieder die Grenze zwischen Erinnerung und Fiktion, stellt erfundene neben reale Figuren und erläutert in der Regel erst in nachfolgenden Büchern den jeweiligen Status von Ereignissen und Charakteren. Weil in Spanien seine Bücher zu Francos Lebzeiten seine Bücher nicht erscheinen, schreibt Semprún sie ausschließlich auf Französisch - erst 1977 verfasst er sein erstes Buch in spanischer Sprache, eine bereits im Titel sich identitär aufspaltende Erinnerung an sein Leben als anderes Selbst: Federico Sánchez. Eine Autobiographie. Semprún ist komplett zweisprachig, das Französische für ihn kein Exil, das Spanische umgekehrt keineswegs die eigentliche sprachliche Heimat. Immer wieder wird er deshalb in beiden Kulturen mit Skepsis betrachtet, als Franzose mit spanischem Pass, als Spanier ein französischer Autor, alles in allem: ein Europäer, der als politischer Intellektueller und als bedeutender Schriftsteller bald über alle Landes- und Sprachgrenzen hinweg große Bekanntheit erlangt.Ein weiterer wichtiger Schauplatz seines Schaffens ist der Film. Er schreibt Drehbücher für Regisseure wie Alain Resnais oder Joseph Losey, es sind aufsehenerregende politische Werke darunter wie Z, Costa-Gavras' mitreißende Anklage gegen die griechische Militärdiktatur. In der Literatur, im Kino, in seinen vielen Wortmeldungen als öffentlicher Intellektueller war Erinnerung für Jorge Semprún immer Erinnerungspolitik in doppelter Richtung: gegen das Vergessen und für das Engagement. So mischte sich Semprún ein, ergriff Partei, bis zuletzt auf der Linken, kämpfte für ein demokratisch geeintes Europa, das die Erinnerung an das mehrfache totalitäre Erbe als Mahnung bewahrt. Mit dem Tod von Jorge Semprún, der im Alter von 87 Jahren in Paris starb, verliert nicht Spanien und nicht Frankreich, sondern Europa einen seiner wichtigsten Intellektuellen.