Wenn es stimmt, was der Kunsttheoretiker Boris Groys einmal behauptet hat, dass nämlich Shopping die erste Bürgerpflicht sei, dann ist ganz Deutschland nun zur Heimat der Großbürger geworden. Unweit des norddeutschen Neumünster etwa will der britische Investor McArthur Glen die Menschen – vor allem aus Hamburg – in ein eigenes Shopping-Dorf locken: ein Designer-Outlet-Center mit gut 100 Läden. Das ist kein Einzelfall. Allerorten wachsen die Konsum-Anlagen; selbst in Klein- und Mittelstädten baut man unverdrossen neue Einkaufszentren, die dann „Galerien“ oder „Arcaden“ genannt werden.
Seit in den sechziger und siebziger Jahren überall Fußgängerzonen angelegt wurden, seit aus dem Einkauf für den tä
en täglichen Bedarf eine postmoderne Freizeitbeschäftigung geworden ist, bemächtigt sich Shopping mehr und mehr der Stadt. Das hat tiefergehende Gründe. So notiert etwa der Soziologe Gerhard Schulze, Erlebnisorientierung sei „die unmittelbare Form der Suche nach Glück“. Im praktischen Alltagsverhalten der Menschen schlägt sich das räumlich nieder, weil Erleben und Glück nicht nur in der privaten Sphäre – vorm Fernseher oder im Bett, im Fitnessstudio oder an der Theke – gesucht und gefunden werden. Vor einiger Zeit hat der Architekt und Theoretiker Rem Koolhaas behauptet, dass sich die Rolle des öffentlichen Raums in den zeitgenössischen amerikanischen und europäischen Städten auf dessen konsumtiven Charakter reduziert habe. Shopping sei demzufolge die letzte verbliebene „öffentliche Handlungsweise“, weil der öffentliche Stadtraum von Kaufmechanismen geregelt werde und andere Bereiche urbanen Lebens – etwa die zwanglose Begegnung von Menschen, der Austausch von Meinungen, das Demonstrieren – vom System des Konsums verdrängt werden.Das mag überzeichnet erscheinen. Gleichwohl liegt die Frage nach dem Zusammenhang von Shopping und Stadt nahe. Gestellt worden ist sie allerdings höchst selten. Dennoch gibt es hier, historisch gesehen, eine enge Wechselbeziehung. Die Hansestädte sind ein schlagendes Beispiel dafür, wie stark eine Stadt einst von ihrem Handel und Gewerbe lebte: Für jeden Bewohner war dies täglich zu spüren und zu sehen, Erfolg und Verlust der Stadt gingen ihn unmittelbar an.Feste Preise unter einem DachZwar ist das heute durch die komplexen Geschäfts- und Logistikbeziehungen kaum mehr nachvollziehbar. Im Unterbewussten aber ist das Bild vom „Marktplatz“ bestimmend für eine erfolgreiche Verkaufsstrategie des Handels geblieben. So war es nur folgerichtig, dass im 19. Jahrhundert mit der Passage ein Bautypus entwickelt wurde, der eben dieses Bild neu belebte: mit einem Raumgefühl, das den Bedürfnissen und Süchten einer sich liberalisierenden Gesellschaft Rechnung trug und der illusionistischen Sphäre einer gebauten dschungelhaften Stadtwirklichkeit. Passagen seien, so Walter Benjamin, „Häuser, die keine Außenseite haben – wie der Traum“. Behütet vor den Widrigkeiten des Alltags wie Regen, Schnee und Straßenschmutz konnte man hier neue Erfahrungen sammeln: Die Welt im Kleinen, dazu noch käuflich.Um die vorletzte Jahrhundertwende kam eine weitere Erfindung hinzu: das Kaufhaus. Dessen Prinzip – feste Preise, alles unter einem Dach – kam zwar aus Frankreich, aber Rudolph Karstadt, Abraham Wertheim und Leonhard Tietz haben das Kaufhaus hierzulande so prominent wie opulent gemacht: Die palastartigen Bauten wurden zu landmarks in den Städten, ihr Angebot übertraf alles bislang Bekannte.Nach dem Zweiten Weltkrieg verkürzte sich das Kaufen auf Bedürfnisbefriedigung: Die Warenhäuser wurden zu gesichtslosen Boxen mit maximierter Verkaufsfläche, beim Discounter übernahm der Kunde die Rolle des Hilfslageristen, wenn er die Waren aus der Transportverpackung befreien musste. Heute stehen wir vor einer Situation, in der zweierlei Formen des Einkaufens parallel existieren.Schloss-ArkadenZum einen die herkömmliche Bedarfsdeckung. Sie wird, schnell und anspruchslos, gleichsam um die Ecke erledigt – im Supermarkt, der entweder als karger Großraum im Erdgeschoss oder in einer wenig anheimelnden, zweckrationalen Kiste untergebracht ist. Die Zahlen lassen staunen: In den letzten Jahren wurde durchschnittlich jeden Tag ein neuer Lebensmitteldiscounter eröffnet. Diese Art von Supermärkten nimmt aber keine Beziehung zur Umgebung auf. Es sind in sich gekehrte, flache Typenbauten ohne Ortsbezug, mit vorgelagerten, meist überdimensionalen Parkplatzflächen. Irgendwie unwirtlich, aber von der Kundschaft akzeptiert.Zum anderen das Shoppen als Erlebnis. Ein Wegzeichen dafür waren die berühmten Flagship-Stores – beginnend mit dem Prada Epicenter in New York von Rem Koolhaas – sowie die Armani-Niederlassungen, die der Italiener Claudio Silvestrin in aller Welt seit 1999 gestaltete. Ein weiteres, viel umfassenderes Signal stellt eine seit fünfzehn Jahren existierende Generation von Shopping-Malls dar. Ein Beispiel dafür ist in Berlin-Steglitz jenes Center, das sich so lapidar wie hochtrabend „Das Schloss“ nennt – ein eklektisches Bauwerk, welches das benachbarte neogotische Rathaus überbieten will und mit „urbaner Aufenthaltsqualität“ protzt. In dieses Bild passen auch die von Herzog/de Meuron entworfenen, mit exquisitem Angebot aufwartenden „Fünf Höfe“ in der Münchner Theresienstraße. Und die „Schloss-Arkaden Braunschweig“ – wenngleich sie sich der Hülle einer, um nur das Mindeste zu sagen, diskussionswürdigen Kopie des 1960 abgerissenen Welfen-Schlosses bedienen.Der Strukturwandel im Einzelhandel verändert nicht nur die Konsumwelt, sondern auch die Stadtkultur. Wenn seitens der Architektur- und Stadtkritik Zeter und Mordio geschrieen wird, dann ist das nicht ohne Ironie. Schließlich hat sich die Architekturdiskussion (zu) lange nicht ernsthaft mit den Bedürfnissen der Einzelhändler und ihrer Kunden beschäftigt. Weswegen man sich auch nicht wundern muss, dass Kaufhäuser und Einzelhandelszentren zunächst einmal von Handelslogistikern konzipiert werden, die genau zu wissen glauben, was der Kunde wünscht: Zugänglichkeit, Bequemlichkeit, Sauberkeit. Die Grundhaltung von Planern und Soziologen ist häufig ressentimentgeladen: Das Shopping Center wird als Fremdkörper empfunden, der noch dazu aus den USA kommt und sich verhält wie Fast Food zu gutbürgerlicher Küche. Dabei ist die Geschichte des Shopping Centers so alt wie die europäische Stadt. Deren Gründungsimpuls war der Markt. Und somit sind beide, Stadt und Center, das Produkt identischer Kräfte.Nicht mehr die grüne Wiese – wie seinerzeit das Main-Taunus-Zentrum vor den Toren Frankfurts –, sondern die Innenstadt ist die Perspektive der avancierten Einkaufscenter. Die Res publica, der öffentliche Raum der Stadt, wird zu einer Art Fruchtwasser, in dem der Einzelhandel sich neu gebiert. Neue Geschäfte, Läden und Shops scheinen heute allerdings nur dann Aussicht auf Erfolg zu haben, wenn sie das jeweilige Umfeld aufgreifen und weiterentwickeln. Die zeitgenössische Handelsarchitektur sucht nun also jenes Stadtbürger-Milieu, das die industrielle Handelskultur weithin überwunden glaubte. Und sie hat – mit Malls und Galerien – eigene Formen entwickelt, die aus ihrer Sicht optimal gestaltbar und kontrollierbar sind. Schicke Mall-Architekturen mit viel Glas, edlen Böden, Wasserspielen und Piazza-Qualitäten sollen eines verheißen: Einkaufen mit Unterhaltungswert – auch wenn der tatsächliche Erlebnisgehalt meist nur eine vordergründige, einseitige Reizsteigerung, ein schnell verpuffender Effekt sein mag.Aus der Warte des Handels ist diese Strategie nur folgerichtig. Und auch gesellschaftlich hat das durchaus seine Richtigkeit: Der Rückgriff auf die europäische Stadt im Allgemeinen und die berühmten italienischen Stadtplätze im Besonderen muss wohl als Vergewisserung eines Ideals verstanden werden, das in der Verbindung von Schönheit und Lebendigkeit bis heute den meisten als Vorbild gilt.Gott-Vater-ModellFreilich gibt es einen entscheidenden Einwand: Was das Center oder die Shopping-Mall von der Geschäftsstraße unterscheidet, ist die Tatsache, dass ein Investor beziehungsweise Betreiber die Mall plant, produziert, besitzt und verwaltet. Er verfügt über alle Informationen, über alle Mittel (Eigentumsrechte, Geld), und er verfolgt widerspruchsfreie Ziele: die Maximierung des Ertrags auf das eingesetzte Kapital. Er strebt danach, alles Unliebsame außen vor zu halten – auch jene Bürger, die sich nicht (konsum)konform verhalten. Kurz, das Center wird in jener idealen Planungssituation realisiert, die der Oldenburger Soziologe Walter Siebel das „Gott-Vater-Modell von Planung“ genannt hat: von einem allmächtigen und allwissenden Subjekt, das jenseits von Gut und Böse handelt. Demgegenüber werden gewöhnliche innerstädtische Räume gleichsam als Stückwerk produziert – in einem Aushandlungsprozess zwischen einer Vielzahl von Akteuren, die teilweise widersprüchliche Ziele verfolgen und nicht unbedingt ein gemeinsames Ganzes im Sinn haben. Die Kommunalverwaltung will das Stadtbild erhalten, den Anwohnern geht der Passantenstrom auf die Nerven, die Geschäftsleute setzen auf neue Parkplätze, und ansonsten regt man sich über den verrosteten Fahrradständer vorm Laden gegenüber auf. Mit anderen Worten: Zwischen den beiden „Modellen“ besteht ein wesentlicher Unterschied, der nicht aufhebbar ist.Dass Zugang und Sicherheit durch den Betreiber kontrolliert werden, scheint „Otto Normalverbraucher“ kaum zu kümmern; er frequentiert und genießt die Malls und Center, beklagt allenfalls, dass zu wenig Ruhebänke angeboten werden. Die perfekt gestylten (Innen)Räume des Shoppingcenters verändern die städtische Sphäre, wie umgekehrt die neuen Raumangebote unser Alltagsverhalten verwandeln. Wir haben uns – ob in der Frankfurter Zeil oder am Potsdamer Platz – so sehr an diese durchkomponierte Ereignisarchitektur gewöhnt, dass wir sie nicht mehr recht missen möchten. Bis zu einem gewissen Grad werden wir also akzeptieren müssen, dass sich die Rolle des öffentlichen Raums in unseren zeitgenössischen Städten ändert, indem sein konsumtiver Charakter akzentuiert wird.