Wie kann man natürliche Ressourcen gerecht verteilen? Der Dramatiker Lukas Bärfuss findet klare Antworten bei einem vergessenen rumänischen Ökonomen und Mathematiker
Tatsachen finden schwer den Weg ins menschliche Bewusstsein. Weil sie zu schmerzlich sind, weil sie unser Bild von der Welt und wie sie zu funktionieren hat, stören würden. Die unangenehmen Tatsachen verstecken wir hinter falschen Begriffen.
So reden wir vom „Sonnenuntergang“, obwohl wir seit Kopernikus wissen, dass es die Erde ist, die sich um die Sonne dreht. Eigentlich müssten wir vom „Erduntergang“ sprechen. Wir tun es nicht, weil wir immer noch gekränkt sind, nicht im Zentrum des Universums zu stehen. Und weil es uns erschreckt, dass der Boden, auf dem wir stehen, nicht fest ist. Wenn also „Sonnenuntergang“ unsere Angst und Eitelkeit versteckt – was verhüllen dann „Rohstoffgewinnung“ und „Energieproduk
rgieproduktion“?Wer in der Physikstunde aufgepasst hat, weiß, wie unzutreffend beide Begriffe sind. Aus dem Erhaltungssatz folgt, dass Energie weder produziert noch vernichtet werden kann. Mit der Materie und damit auch den Rohstoffen verhält es sich ebenso. Warum verschleiern wir diese Tatsachen durch falsche Begriffe? Der Mathematiker und Ökonom Nicholas Georgescu-Roegen – 1906 in Constanza, Rumänien, geboren, 1994 in Tennessee, USA, gestorben – hat in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts darauf hingewiesen, dass die klassischen ökonomischen Theorien von einer falschen Grundannahme ausgehen. In der Nachfolge von Adam Smith formten die meisten ihre Modelle nach dem mechanistischen Weltbild. Mit linearen, gleichförmigen und umkehrbaren Prozessen. Arbeit lässt sich in Energie umwandeln und diese wieder in Arbeit.Die Ökonomen folgen diesem Prinzip. Etwa wenn sie erzählen, dass sich aus einem Rohstoff, Getreide, ein Produkt herstellen lasse, Brot, das man verkaufen könne, wodurch man Geld erhalte, mit dem man wiederum Getreide kaufen könne, um Brot herzustellen. Die meisten wirtschaftlichen Konzepte funktionieren wie dieser Kreislauf: der Konjunkturzyklus etwa oder die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung im Bruttoinlandsprodukt.Wer für die Kosten aufkommtDoch es gibt keinen Kreislauf. Das Perpetuum mobile ist physikalisch unmöglich. Diese äußerst unangenehme Tatsache folgt aus dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik und dem daraus abgeleiteten Gesetz der Entropie, dem Maß für die Unordnung in einem System. Wir Menschen sind auf geringe Entropie angewiesen, nur diese können wir nutzen. Die Ozeane etwa haben ihre immense Wärmeenergie in einer so gigantischen Entropie gespeichert, dass wir selbst mit modernsten technologischen Mitteln nicht über sie verfügen können. Das Problem ist: Geringe Entropie, zum Beispiel in Rohstoffen, ist nicht nur ein knappes, vor allem ist sie ein endliches Gut.Um niedrige Entropie verfügbar zu machen, sind immer größere Anstrengungen nötig. Die leicht zugänglichen Ölfelder sind ausgebeutet, weshalb nun in der Tiefsee nach dem „schwarzen Gold“ gebohrt werden muss. Der beträchtliche Mehraufwand ist nicht gratis, jemand muss für die steigenden Kosten aufkommen. In der Regel sind das aber nicht die Konsumenten, nicht wir in den entwickelten Ländern. Es sind Menschen etwa in den Kupferminen von Sambia, die Alice Odiot in ihrer eindrücklichen Reportage Das hier ist Bagdad, einfach ohne Krieg in dem Buch Rohstoff beschreibt.Niedrige Entropie ist so begehrt, dass ihretwegen alle Gebote der Menschlichkeit vergessen werden. Im Ostkongo wütet seit über einem Jahrzehnt ein Krieg. Bilanz: mindestens sechs Millionen Tote, mindestens so viele Vertriebene. Der Kriegsgrund: die Rohstoffe. Vor allem Koltan, ein metallhaltiges Mineral, ohne das weder Computer noch Mobiltelefone funktionieren. Wenn wir für die Kriegstoten und traumatisierten Hinterbliebenen Entschädigungen zahlen müssten, dann würden unsere Handys etliche tausend Euro kosten. Wer würde sich dann noch jedes Jahr das neueste Modell kaufen?Eine solche Vollkostenrechnung gibt es nicht. Tatsächlich sind die falschen Preise zugleich Ausdruck und Grund für die anhaltende Ungerechtigkeit auf den Weltmärkten. Auch sie verschleiern eine unangenehme Tatsache: dass wir alle vom Rohstofffluch profitieren. Um Abhilfe zu schaffen, müssten Bergbaukonzerne, aber auch Handelshäuser die externen Kosten ihrer Tätigkeit internalisieren und für die sozialen und ökologischen Schäden aufkommen, die sie verursachen.Und selbst damit hätten wir noch lange keine gerechten Preise. Denn was ist mit jenen Kosten, die in der Zukunft liegen? In seinem Essay Energy and Economic Myths von 1975 hat Georgescu-Roegen das Problem drastisch formuliert: „Deshalb müssen wir in der Bioökonomie betonen, dass jeder Cadillac […] weniger Pflüge für zukünftige Generationen und indirekt weniger menschliches Leben in der Zukunft bedeutet.“ Wie also und wem verrechnen wir die Rohstoffe, die zukünftigen Generationen nicht mehr zur Verfügung stehen, weil wir ihre niedrige Entropie bereits in hohe überführt haben? Haben jene, die zuerst kommen, also früher geboren wurden, einfach Glück gehabt? Unser mechanistisches Wirtschaftssystem bietet keine Antworten auf diese eminent politischen Fragen – und jene, die Nicholas Georgescu-Roegen gegeben hat, müssen uns nachdenklich stimmen.Wo das hinführtZuerst forderte er die Einstellung jeder Rüstungsproduktion. Dann seien die Entwicklungsländer in einer gemeinsamen Anstrengung auf ein gutes, aber nicht luxuriöses Niveau zu bringen. Das Bevölkerungswachstum müsse so weit beschränkt werden, dass alle Menschen durch ökologischen Landbau ernährt werden können. Dazu sei der Energiekonsum strikt zu regulieren. Ferner müsse sich die Menschheit von der Mode befreien, dieser „Krankheit des menschlichen Geistes“. Es sei ein Wahnsinn, wenn man ein Möbel oder Kleidungsstück wegwerfe, das noch gebraucht werden könne. Und jedes Jahr ein neues Auto zu kaufen oder das Haus aufzumöbeln, so Georgescu-Roegen, sei ein bioökonomisches Verbrechen.Es ist offensichtlich, dass solche Maßnahmen in eine Ökodiktatur führen könnten, in einen Staat, der die totale Kontrolle über den Einsatz der natürlichen Ressourcen hätte. Eine ungemütliche Vorstellung – und ein weiterer Beleg dafür, dass wir die Ausgestaltung unserer Zukunft nicht den Ökonomen überlassen sollten.Aber ebenso offensichtlich ist, dass viele Menschen im globalen Süden längst in einer solchen Diktatur leben. Mode ist ihnen zwar nicht verboten, aber unerschwinglich, was in der Praxis auf dasselbe hinausläuft. Wegzuwerfen haben sie nichts, weil sie nichts besitzen, nicht einmal ihre eigenen Lebensgrundlagen. Um ein paar Dollars zu verdienen, müssen sie ihre Gesundheit opfern. Sie kennen keine Altersvorsorge, keine Krankenversicherung, keine Ferien.Viele von ihnen würden zu Georgescu-Roegens Programm begeistert „ja“ sagen; sie könnten nur gewinnen. Verlierer wären wir in den entwickelten Ländern. Wir sind zu unserem Wohlstand gekommen, weil es Diktaturen und skrupellose Firmen gibt, die uns die billigen Betriebsstoffe lieferten. Unsere Privilegien, Chancengleichheit und Meinungsfreiheit wurden damit erkauft, dass jemand auf diese Privilegien verzichten muss. Das alles ist bekannt. Die unangenehmen Tatsachen liegen auf dem Tisch. Die Frage ist, was wir damit anfangen.Oft wird behauptet, die Probleme seien kompliziert und eine Lösung kaum zu finden. Das ist nicht wahr. Nicht die Probleme sind kompliziert, unsere eigene Verstrickung ist es. Ohne Not ändern nur die wenigsten ihre Lebensweise. Deshalb ist es einfacher, die Wirklichkeit zu leugnen und mit falschen Begriffen zu verhüllen. Aber solange wir weiter so tun, als verfügten wir über unendliche Ressourcen, als sei unbeschränktes Wachstum möglich und als dürften Rohstoffkonzerne ganze Länder ausplündern, so lange können wir diese Probleme nicht lösen: Nicht die Kriege, die um Rohstoffe geführt werden, nicht die Klimaveränderung, nicht die Umweltverschmutzung durch Erdöl, Bergbau und Radioaktivität und sicher auch nicht die sich verschärfenden politischen Auseinandersetzungen um die gerechte Verteilung der natürlichen Ressourcen.Georgescu-Roegen war ein Pessimist und, ein wenig, auch ein Poet. Er glaubte nicht an die Umsetzung seiner Forderungen. Vielleicht, so beschließt er seinen Essay, sei dem Menschengeschlecht eine kurze, hitzige und extravagante statt einer langen, ereignislosen und vegetativen Existenz beschieden. Und dann würden andere Arten ohne spirituelle Ambitionen – Amöben zum Beispiel – unsere Welt erben und im Sonnenlicht baden.