Aus Anlass eines Wettbewerbs: Nicht Leserbrief, nicht Hausarbeit, zu Literatur gewordenes Wissen. Der Essay als Kunstform feiert nun auch in Deutschland sein Comeback
Ende letzten Jahres bekam ich eine E-Mail von Mark Greif. Ich kenne Mark Greif nicht persönlich, aber ich kenne ihn als Leser des Magazins n+1, das er in New York unter anderem mit Benjamin Kunkel herausgibt. Ich kenne ihn als Autor brillanter Essays, über die Musik von Radiohead zum Beispiel, oder die Fitnessdiktatur, die er mit von Kafka erfundenen Apparaturen zur Marter des menschlichen Körpers in Beziehung gebracht hat. „This season, for the first time”, schreibt Greif, „I have published a book containing my essays and writings – and it exists only in German.”
Bereits daran lässt sich einiges ablesen, was die mediale und intellektuelle Verortung des Essays im deutschsprachigen Raum betrifft. Denn ähnlich wie die Short Story ist der
Short Story ist der Essay eine literarische Form, die ursprünglich – und bis heute – nicht primär für die Veröffentlichung zwischen Buchdeckeln gedacht ist. Insofern ist es kein Zufall, dass in den USA, wo er in Zeitschriften wie The New Yorker, Harper’s Magazine, The Believer oder eben der noch jungen n+1 eine historisch gewachsene publizistische Landschaft (und nicht zuletzt einen Markt) vorfindet, der Essay eine lebendige literarische Gattung ist. Auch in Großbritannien gedeiht er, zum Beispiel im Times Literary Supplement oder im London Review of Books.Im deutschsprachigen Raum hingegen sind Entsprechungen zu den genannten Magazinen rar: Lettre und Merkur fallen einem ein. Auch die Leipziger Literaturzeitschrift Edit versucht derzeit, diese Lücke zu füllen und präsentiert in ihren letzten beiden Ausgaben ein breites Spektrum zeitgenössischer Essayistik. Dass sie dabei viel auf Übersetzungen aus amerikanischen Magazinen zurückgreift, zeugt von einer gewissen Verlegenheit. Scheinbar ist eine vergleichbare Autorenvielfalt, die ähnliche hochwertige Texte auf Deutsch hervorbrächte, nicht vorhanden. Und so ist es jedenfalls auch kein Zufall, dass Mark Greifs Sammlung seiner Essays in Deutschland – und nur hier – als Buch herausgekommen ist, wo die Edition Suhrkamp seit 1963 gesellschaftliche Diskurse prägt und spiegelt.Es ist erlaubt, „ich“ zu sagenBluescreen erscheine im gleichen Verlag wie die Schriften Siegfried Kracauers und Walter Benjamins, erklärte Greif seinen anglophonen Lesern mit offenherzigem Stolz. In der deutschen Literatur der Weimarer Republik und des Exils hatte der Essay eine wirkungsvolle Tradition. Dass Randständigkeit nicht immer das Problem des Essays gewesen ist, zeigt auch Kurt Tucholskys Polemik gegen die Essayisten, die mit dem Ratschlag schließt: „Versuche, einen Roman zu schreiben. Du vermagst es nicht? Dann versuch es mit einem Theaterstück. Du kannst es nicht? Dann mach eine Aufstellung der Börsenbaissen in New York.Versuch alles. Und wenn es gar nichts geworden ist, dann sag, es sei ein Essay.“ Wandte sich Tucholsky Anfang der 1930er Jahre gegen einen inflationären Verschleiß der Gattung durch bildungsüberladene, belehrende Artikel im Stil und Geschmack des 19. Jahrhunderts, gibt es seit einigen Jahren verstärkt das Bestreben, die Textsorte Essay wieder ins Rampenlicht zu rücken. BR2 veranstaltet ein „Forum Essay“. Renommierte Zeitschriften wie der Merkur und aktuell die Edit schreiben Wettbewerbe aus. Die Zahl der Zusendungen ist durchweg hoch. Dem Vernehmen nach haben es die Juroren jedoch häufig mit Verwechslungen zu tun. Mit dem Leserbrief auf der einen Seite und der wissenschaftlichen Hausarbeit auf der anderen.Beide Verwechslungen sind verständlich. Im Leserbrief äußert jemand seine persönliche Meinung zu einem Thema, ohne sachlich in die Tiefe zu gehen. In einer Hausarbeit geht jemand sachlich in die Tiefe, ohne seine persönliche Meinung zu äußern. Der Essay kann zwischen beiden Absichten vermitteln, ohne es zu müssen. Es ist erlaubt, „ich“ zu sagen, wobei das „Ich“ hier im Unterschied zum Roman nicht erfunden ist. Ich, als Autor dieses Textes, habe wirklich eine E-Mail von Mark Greif bekommen, und wäre dies ein Essay, könnte ich darüber schreiben. Oder darüber, wie ich im Frühsommer 2009, ob es Mai oder Juni war, weiß ich nicht mehr, in einem Antiquariat in Bloomsbury Eliot Weinbergers Band Kaskaden in deutscher Übersetzung kaufte. Auf der zweiten Seite ist ein Stempel mit der Adresse einer literarischen Agentur in Brooklyn, und ich werde nie erfahren, wie das Buch in eine Wühlkiste in der Marchmont Street geraten ist, in die Nachbarschaft, in der seinerzeit die große Essayistin Virginia Woolf wohnte.Ein Essay kann, wie gerade eben, abschweifen. Und er kann eine eigene Erfahrung zum Ausgangspunkt für grundsätzliche Überlegungen zum Umgang mit der Kreatur machen, wie David Foster Wallace in Am Beispiel des Hummers. Der Autor kann von seinen Erinnerungen erzählen, wie Jonathan Franzen in seinem Essay über das Gehirn seines Vaters; auf Reisen gehen wie Elif Batuman in ihren Erkundungen der russischen Literatur oder Chuck Klosterman in Killing Yourself to Live, einem Road-Trip zu den Sterbestätten berühmter und vergessener Rockmusiker. Essays können auf sich selbst und ihren Entstehungsprozess verweisen, wie Octavio Paz’ Der sprachgelehrte Affe, als riefen sie ihren Lesern zu: Erinnere dich bitte, dass du gerade einen Text liest, der von mir geschrieben worden ist und sich verändert hat, während ich ihn geschrieben habe. Seinem Umfang nach ist der Essay dabei so flexibel wie in der Themenwahl. Entscheidend ist, wie die Macher von n+1 fordern, „dass ein Essay sein eigener Anlass ist“.Überraschende VerknüpfungNeu ist das nicht. Es ist, im Gegenteil, seit Michel de Montaigne die Wesensbedingung des Essays. Jemand denkt über etwas nach, das ihn beschäftigt, und versucht – das Versuchen ist programmatisch – den Gedanken eine sinnvolle Ordnung zu geben. Dieses Verfahren, schreibend zu einer neuen Sicht auf etwas zu gelangen, macht den Essay zur zeitgemäßen literarischen Form in einer Welt, die für den einzelnen auch nicht mehr annähernd überschaubar ist. Zeitgemäß auch deshalb, weil man für die Lektüre meist nicht mehr als eine Stunde aufwenden muss. Viele Essays kann man in einem Zug durchlesen, oder bei Starbucks zu einem mittleren Caramel Macchiato konsumieren. So hält die Gattung der viel beschworenen Beschleunigung unserer Gegenwart stand und entschleunigt sie zugleich durch ihr selbstbestimmtes intellektuelles Tempo.Anders als der Roman, der als fiktionales Gebilde eine Distanz zur Realität schafft, und anders als eine Twitter-Mitteilung, die schlaglichtartig etwas über den Augenblick mitteilt, bietet der Essay die Möglichkeit, unsere Erfahrungswirklichkeit sprachlich zu reflektieren und auf sie zu reagieren. Dabei kann er Wissen in Literatur verwandeln, ohne eine Handlung und Figuren zwischen Autor und Leser schieben zu müssen. Die enzyklopädischen Essays Eliot Weinbergers machen das vor. Weinberger ist kein Verfasser weiterer Listensammelsurien. Er reiht nicht bloß Kurioses aneinander, sondern verknüpft Phänomene auf überraschende Weise, wie das Fasten der Heiligen Katharina in Siena und den Glauben der Azteken, nach dem „Kinder, die verstarben bevor sie sprechen konnten“ nach Chichihualcuauhco kamen, an den „Ort des Kindermädchenbaums, wo sie mit nach oben gewandten Gesichtern und offenen Mündern saßen, während Milch von den Blättern des großen Baumes tropfte und sie am Leben erhielt.“Aber gibt es solche creative nonfiction tatsächlich nur in Amerika und Großbritannien? Natürlich nicht. Es gibt immer noch Hans Magnus Enzensberger und Alexander Kluge. Es gibt Adam Soboczynski und Dietmar Dath, Kathrin Röggla oder Tobias Moorstedt, dessen Selbsterfahrungsbericht über sogenannte Smart Pills 2011 erschienen ist – im Playboy übrigens. Und es gibt Sascha Lobo, der unlängst eine gefährliche Flut von Essays nahen sah. Beklagenswert seien „in Blogs und Büchern“, so Lobo, „der Teufel anekdotische Evidenz“, „der Teufel Großbehauptung“ und „der Teufel Weltforderung“. Dass Lobos Artikel gegen den Essay im SZ-Magazin alle Kriterien eines Essays erfüllt, spricht dabei nur für die Brauchbarkeit der Form. Schreibend hat er sich seinen eigenen Weg durch die Komplexität unserer Welt gebahnt und seine Leser mitgenommen. Nichts anderes tut und will der Essay heute. Glaube ich.Anfang dieses Jahres bekam ich einen Anruf von Jörn Dege. Ich kenne Jörn Dege persönlich und ich kenne ihn als Leser der Zeitschrift Edit, die er in Leipzig unter anderem mit Mathias Zeiske, Kerstin Preiwuß und Wolfram Lotz herausgibt. „Willst Du einen Essay für den Freitag schreiben?“, fragte Jörn. „Gern“, sagte ich. „Worüber?“ – „Über den Essay.“ Ich antwortete, ich wolle es versuchen.