Rudolf Lorenzen ist ein Meister der langen Form, seine Romane sind schlicht anmutende, dabei aber detaillierte und wirkungsvolle Dokumentationen deutscher Gesellschaft. Dabei sind Anpassung und Opportunismus nicht nur die zentralen Sujets darin, sie treiben auch den am 5. Februar 1922 in Lübeck geborenen und seit mehr als einem halben Jahrhundert in Berlin lebenden Schriftsteller um. „Des Autors Kampf beginnt vor der ersten Zeile, die er schreibt. Es sei denn, ein Schriftsteller – cleverer und geschmeidiger von Charakter – schreibt nach der Mode“, lautet sein credo in einem 1971 veröffentlichten Text.
Weil Lorenzen aber eben gegen die Mode schreibt und es nicht ihm, wohl aber seinen Romanfiguren an charakterlicher Standfestigkeit zuweilen mangelt, blieb dem
blieb dem Schriftsteller der kommerzielle Erfolg bisher versagt. Zum 90. Geburtstag erscheint nun im Verbrecher Verlag im Rahmen einer Werkauswahl Die Hustenmary, eine Sammlung kürzerer Texte. Als „Berliner Momente – Texte aus den letzten fünfzig Jahren über die Westberliner Boheme“ bewirbt der Verlag das Buch. Boheme, dieser Sozialtypus, der eine künstlerische und in Berlin öfter auch künstliche Lebensweise beschreibt, hat nicht erst als „digitale“ einen faden Beigeschmack. Schon in der Hustenmary sind jene Texte aus den letzten 50 Jahren weitaus stärker, die abseits der Boheme spielen. Texte wie Notdienst hinter Gittern von 1966, eine Meditation über die nächtliche Einsamkeit des Großstädters und darüber, dass Schmerz zu ungelenker Annäherung, einmal entfachte Sehnsucht aber wiederum zurück in den Schmerz führen kann.Eisbahn im Europa-CenterBeim Soziologen Georg Simmel ist Großstadt immer auch eine Zumutung für das Seelenleben, der es mit Geistesgegenwart zu begegnen gilt. Was Simmel meint, übersetzt Lorenzen in Hotel Arosa in handwerklich gelungenes, streckenweise ungefiltertes Informations-Stakkato – „Im Hotel muss immer etwas los sein“. Der Leser gewinnt nach Hektik über Seiten ein Gespür für die Notwendigkeit selektiver Wahrnehmung in Großstädten. Auch Eisbahn im Europa-Center ist ein intensives Beobachtungsprotokoll großstädtischen Lebens. In dieser Momentaufnahme spiegelt sich Berlin in den Bewegungen auf dem Eis. Auf der Bahn wird geträumt, geprahlt, gespielt, gestolpert. Man gleitet aneinander vorbei, kaum einer nimmt Notiz vom anderen. So viele Augen, so wenig Blicke füreinander. Lorenzen, der 1955 nach Westberlin zog und der Stadt schnell verfallen ist, ist auf der kurzen Erzählstrecke immer dort am präzisesten, wo er außen vor bleibt.Talent ist rarVon Voraussicht zeugen Texte wie Rolf Eden sucht Berlins letztes Talent. Rolf Eden und der Ku’damm haben in den letzten 45 Jahren gemeinsam an Glanz verloren (bevor sie zuletzt wieder etwas Schwung aufgenommen haben). Eins aber bleibt gültig: „Einer hat einmal angefangen mit dem Heulen, und nun glaubt jeder, er kann es auch“, beschreibt Lorenzen die „Musiktalente“ und ergänzt diese Beobachtung um zeitlos aktuelle Realität: „Wollen wir uns die Talente merken? Ach, wir werden sie vergessen. Im nächsten Jahr sprießen neue.“Lorenzens Einsichten in die Westberliner Boheme hingegen wirken so befangen, wie sie sein müssen, wenn der Beobachter zu stark am Beobachteten teilnimmt. Einige dieser Texte erschöpfen sich im Namedropping der Originale dieser Westberliner Zeit. „Kreuzberg darf nicht überschwemmt werden vom Tourismus, dessen nivellierendes Spezifikum schon immer war, die Originale zu vertreiben und Bizarres einzuebnen in eine Wüstenei, die allenfalls noch originell zu nennen ist“, schreibt Lorenzen in Einblick ins Milljöh von 1970.Das ist schon richtig, nur leistet die Boheme, oder vielmehr das, was sich noch so nennt, wenn bereits darüber geschrieben wird, immer auch selbst ihrer Folklorisierung Vorschub. Die Geschichte Rudolf Platte bummelt durch Kreuzberg liefert dem Skeptiker sogleich den Beweis dafür, welch allenfalls noch originelle Außenwirkung die Westberliner Boheme hat. Ein Engländer bittet den Schauspieler Rudolf Platte um ein Autogramm in seinen Reisepass. Platte zögert vor dem Dokument, der junge Engländer bestärkt ihn. „Schreiben Sie nur rein. Ich komm’ sowieso nicht wieder her.“ Namenspatronin der Textsammlung Die Hustenmary ist eine Wilmersdorfer Prostituierte, deren Biografie Lorenzen in Dialekt protokolliert. Das verschollene Berliner Original, die stereotype Kodderschnauze mit Herz – das soll eine Hommage sein, und doch wirkt der mundartliche Lokalkolorit heute platt.Die BeutelschneiderDie Nachwirkungen der Hustenmary-Sammlung sind so kurz wie die Texte. Den großen Schriftsteller Lorenzen bekommt man halt nur in seinen Romanen. Alles andere als ein Held, sein Debüt von 1959, das die Geschichte von Robert Mohwinkel erzählt, dem Kleinbürger, der sich opportunistisch durch Nationalsozialismus, Krieg und Nachkriegszeit windet. Oder Die Beutelschneider von 1962, worin Lorenzen das Wirtschaftswunder als fragiles, betrügerisches Geflecht entlarvt und zugleich die Literatur- und Kulturindustrie karikiert.Im Literaturbetrieb ist Rudolf Lorenzen nicht groß herausgekommen. Das hat ihn natürlich doch gewurmt, wie der Text Über den Verleger beweist. Verleger sind das Unkraut der Literatur und machen den Autoren nur das Leben schwer. „Der Autor resigniert, verliert die Lust an weiteren Büchern, Werbetexte wird er dichten, Kurzgeschichten für Sonntagsblätter“, benennt Lorenzen das Los der Ungeschmeidigen. Er selbst hat sich diesem Los widersetzt. Zum Glück für uns Leser, die wir mit Romanen bereichert werden, die uns an den Wirklichkeiten der Vergangenheit teilhaben lassen.