Zeitung und Raum

Medientagebuch Die neue Ausgabe des afrikanischen Kulturmagazins "Chimurenga" erfüllt journalistische Wunschträume. Eine 300-seitige Wochenzeitung, die vier Jahre zurückdatiert ist

Eine spekulative, zukunftsorientierte Zeitung, die in die Ver­gangenheit reist und dabei die Gegenwart neu erfindet? Gibt es. Die Chimurenga Chronic, 16. Ausgabe des in Kapstadt produzierten Literaturmagazins Chimurenga, ist die Erfüllung eines journalistischen Wunschtraumes. Nach einjähriger Vorbereitung erschien sie im Oktober vergangenen Jahres in Süd­afrika, Nigeria und Kenia in Form einer einmaligen, auf den Mai 2008 zurückdatierten 300-seitigen Wochenzeitung. Wem das nach Schnee von gestern klingt: Die Chronic hat ihre eigene Zeit.

Das Kollektiv der Chimurenga People um Gründer und Chefredakteur Ntone Edjabe ist nach dem Shona-Wort für „revolutionären Befreiungskampf“ und einer politischen Musikrichtung Simbabwes benannt. An der Schnittstelle zwischen Pop und Politik operierend, hat sich Chimurenga in den vergangenen zehn Jahren zur Vorzeige­publikation einer neuen Generation afrikanischer Intellektueller entwickelt.

Warum nun die Reise zurück in den Mai 2008? Es gilt den Augenblick zu markieren, an dem sich Südafrika für alle Welt sichtbar dem Rest des Kontinents anschloss und in das postkoloniale Zeitalter eintrat. Zwischen März und Mai, dem Höhepunkt eines Gewaltausbruchs gegen Migranten, wurden damals nach offiziellen Angaben 60 Menschen in den südafrikanischen Townships ermordet, Hunderttausende vertrieben. Spätestens seitdem, impliziert die Chronic, fehlt dem Glauben eines südafrikanischen Sonderstatus auf dem Kontinent jede Basis.

Überzeugend kompromisslos

Die Chronic versucht, für den Komplex der Geschehnisse von damals sowie für die „Afrikanität“ Südafrikas neuen Ausdruck zu finden. Deshalb ist Zeit relativ, wird die Logik der Krisenberichterstattung ignoriert. Nachdem die vorherigen, unregelmäßig und immer anders erscheinenden Chimurenga-Ausgaben 14 und 15 als Buch­manuskript und Dissertation veröffentlicht wurden, hinterfragt die Chronic eine Vorstellung von Zeit, Raum und Geschichte, wie sie die Zeitung formt.

Dass die Realität komplizierter ist, als es die Konzepte von Experten und die medialen Rubriken zu erklären vermögen, ist ein bleibender Eindruck: Auf den ersten Seiten soll mit einem von Pfeilen verbundenen Durcheinander von Zeitleisten, Tabellen, Landschaftskarten und Zitaten von Tätern, Opfern und Wissenschaftlern nachvollzogen werden, wie die Attacken von 2008 geplant wurden. Das Lesen der Chronic ist ästhetischer Genuss und ungewohnte Anstrengengung zugleich. Der Satz des Afro-Beat-Erfinders Fela Kuti, wer keine Ahnung habe, solle wissen lernen, ist programmatisch: keine Verständlichkeit um jeden Preis. Selbst wenn die langen Artikel von und über scheinbar un­bekannte Namen auf Uneingeweihte zunächst verstörend wirken – der Auftritt Chimurengas ist so überzeugend kompromisslos, dass es schwer ist, nicht herausfinden zu wollen, worüber hier gesprochen wird.

Ist das jetzt anti- oder postkolonial, panafrikanisch oder bereits afropolitanisch? Die Sekundärliteratur, die diese Fragen verhandelt, wächst mit dem Erfolg der Chimurenga-Publikationen. Die Financial Times schrieb, dass die Chronic dem New Yorker an journalistischer Qualität überlegen sei. Der Vergleich hinkt freilich: Chimurenga wird gerade so groß und sichtbar gehalten, dass es der Publikation in relativer finanzieller Unabhängigkeit möglich bleibt, selbst zu bestimmen, wie, wo und wann die nächste Ausgabe erscheint. Noch weiß das niemand. Schon deshalb hat die Chronic von ihrer Ak­tu­a­li­tät nichts verloren.

Moses März lebt in Kapstadt und schrieb zuletzt über Achille Mbembe. Die Chronic gibts auf chimurenganewsroom.org.za

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