Halb Prettin ist im Angebot: Das Postamt, ein Ziegelbau: Zu verkaufen. Zweigeschossige Wohnhäuser mit verwilderten Vorgärten: Zu verkaufen. Der Bahnhof verlassen, die Schienen von meterhohem Gras überwuchert. Und auch die Lichtenburg, ein mächtiges Schloss inmitten von Prettin, 1933 eines der ersten Konzentrationslager der Nazis, zu verkaufen. Weder Bund noch Land können oder wollen das Gebäude erhalten. Der Kreis Wittenberg winkte ebenfalls ab. Jetzt wird privatisiert, "im Interesse des Steuerzahlers", sagt der Magdeburger Oberfinanzdirektor Jürgen Nolte.
Eine Handvoll Staub
Die Lichtenburg ist gigantisch, 23.000 Quadratmeter Fläche, verwinkelte Seitenflügel, ein Glockenturm, eine Kirche. Der gelb-orange Putz platzt in großen Fladen von der
ßen Fladen von der Fassade. Seit 1993 hat der Bund zwei Millionen Mark in den Unterhalt investiert, eine Sanierung würde rund 150 Millionen kosten.Im Zellentrakt, einem Anbau aus Kaisers Zeiten, fällt fahles Licht durch verstaubte Glasscheiben. Die Treppe in den ersten Stock trägt noch, im zweiten fehlt das Geländer, Stufen sind herausgebrochen. Drei Etagen mit je 13 Zellen auf jeder Seite, in der Mitte der Kontrollgang. "Ach, lieber Mann, ich habe immer gedacht, mich könnte nach der zweijährigen Einzelhaft nichts mehr schrecken, aber ich habe mich getäuscht. Ich habe entsetzliche Angst vor dem Auspeitschen, vor der Dunkelzelle", schrieb die einst dort inhaftierte Lina Haag in einem der Briefe an ihren Mann, die nach 1945 unter dem Titel Eine Handvoll Staub veröffentlicht wurden.Augenblicklich haben dicke Schichten Putz und Farbe die Vergangenheit der Lichtenburg unter sich begraben. Die DDR, die sich in der Nachfolge des kommunistischen und sozialdemokratischen Antifaschismus sah, ging nicht eben zimperlich mit dem ehemaligen KZ um. An den Wänden stehen Zahlen, mit Bleistift hingekritzelt: "132 Sack mal 70 kg". Die Prettiner LPG Geschwister Scholl hatte hier Reifen und Getreide gelagert.Neben der Lichtenburg stehen zwei der drei Gasthäuser Prettins. Im Deutschen Haus streut Wirtin Christine Schlenker Futter für die Zierfische ins Aquarium. Die Tische sind verwaist. Jedes Jahr mache sie 25.000 Mark weniger Umsatz, erzählt Schlenker und fischt mit einem Sieb Ablagerungen aus dem Wasserbecken. Die Prettiner leisteten sich nicht mehr so viel Bier, seit sie von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe leben. Kieswerk geschlossen, die Stanz- und Emaillierfabrik dicht, die LPG mit ehemals gut 600 Stellen aufgelöst, beim Waschmittelhersteller Schladitz nur noch ein Dutzend Leute in Lohn und Brot. Gastwirtin Schlenker berichtet, der Gewerbeverein habe sich nach viel Palaver gegen den Verkauf der Lichtenburg ausgesprochen. "Nachher kauft einer das Schloss und lässt es weiter verfallen", befürchtet sie. Vorschläge für die Zukunft der Lichtenburg gäbe es schließlich einige. "Ein Gefängnis zum Beispiel, war doch früher auch eins. In dem Zustand allerdings, da nimmt das keiner, im Gefängnis geht´s denen doch heute besser als zu Hause."Kerstin Drabow, eine 37-Jährige mit dauergewelltem Blondhaar, ist "amtierende Leiterin" der Gedenkstätte. Die diplomierte Museologin führt seit 1983 Besucher durch das Schloss, zu DDR-Zeiten jährlich etwa 14.000, heute die Hälfte. Drabow zeigt das Brotmuseum, das Weinmuseum, das Heimatmuseum mit den DDR- und FDJ-Fahnen und - vorbei am Hochzeitsraum - die Gedenkstätte für die KZ-Häftlinge. Eine seit DDR-Zeiten fast unveränderte Ausstellung, Tafeln rühmen den Widerstand der KPD. Unter Glas rührend einfache Handarbeiten, von den Häftlingen heimlich als Geburtstagsgeschenke gebastelt. Auf einer Bank liegt ein Album mit Biografien von "Zeugen Jehovas", die hier litten. Sie weigerten sich, den Hitlergruß zu entbieten, und sie weigerten sich, den Kriegsdienst abzuleisten. Unter allen Systemen, auch in der DDR. Deshalb war ihr Verband - die Wachtturm-Gesellschaft - ab 1951 in der DDR verboten. Etliche Überlebende des Lagers saßen später in DDR-Gefängnissen. Die Ausstellung in der Lichtenburg erwähnt deshalb nicht, dass unter den rund 1.500 Insassen des KZs zeitweise mehr als die Hälfte Zeugen Jehovas waren. Das Album mit ihren Biografien konnte die Wachtturm-Gesellschaft erst vor wenigen Jahren dort ausgelegen. Holzkeile als KopfkissenZum Abschluss des Rundgangs leitet Drabow ihre Besucher in den "Bunker". Faulige Luft schlägt aus den Kellerräumen empor. In den Zellen - drei Schritte breit, vier lang - sind Pritschen eingemauert, Holzkeile dienen als Kopfkissen. Vor dem Fenster hoch oben an der Wand schließt ein Lochblech das Tageslicht aus. Der Steinboden atmet Kälte."Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht in der Frühe eine Tote in den Dunkelzellen gefunden wird ... Nackt, mit zerschlagenen Knochen und blutbesudelten Körpern liegen die toten Frauen auf dem Fußboden, manche haben sich unter die Pritschen zu drücken versucht, um den Todeshieben zu entgehen. Zusammengekrümmte, zusammengeschlagene, erstarrte Wesen, die einmal Namen, Männer, Kinder, Heime hatten", erinnert sich Lina Haag in ihrem Buch an diese Zellen.Im Kräutergarten der Gemeinde Prettin, einst auch ein Teil der Lichtenburg, harken Ursula Krug und Margot Krenz zwischen jungen Petersiliensprossen. Ihr Wissen über Koriander, Kerbel und Co. haben sich die beiden Frauen angelesen. Früher arbeiteten sie im Büro der Prettiner LPG, jetzt sind sie in einer Strukturanpassungsmaßnahme untergekommen. "SAM wie Strukturanpassungsmaßnahme, nicht ABM, das mussten wir erst mal lernen", meint Ursula Krug und rückt Fläschchen mit frisch angesetztem Kräuteressig ein wenig mehr in die Sonne. Die Lichtenburg? Zu Nazizeiten hätten die Schauspielerin Lotti Huber und die Kommunistin Olga Benario-Prestes in der Lichtenburg gesessen, fällt den beiden Gärtnerinnen ein. Sie hoffen, das Schloss möge erhalten bleiben. Noch sind sie nicht daran gewöhnt, dass alles käuflich ist. Ihre Erzeugnisse - Kräuteressig und Kräutersalz - schenken sie gern den wenigen Besuchergruppen. Eine Erinnerung an die Lichtenburg.