Wir haben uns entschlossen, die durch den Disput zwischen Benjamin Mikfeld und Albrecht Müller (Freitag 29 und 30/07) angestoßene Debatte zur Zukunft des Sozialstaates und der Linken fortzusetzen. Dies geschieht, weil die Kontroverse Kernfragen linken Selbstverständnisses in unserer Zeit und damit notgedrungen das Verhältnis zwischen Sozialdemokratie und neuer Linker berührt. So kommt an dieser Stelle noch einmal der einstige Juso-Vorsitzende Benjamin Mikfeld mit einigen Gedanken zum Text von Albrecht Müller und darüber hinaus zu Wort. Als zweiter Autor schreibt der WASG-Mitbegründer und Ökonom Joachim Bischoff, Mitherausgeber der Zeitschrift Sozialismus.
Natürlich trug die von mir im Freitag gewählte Überschrift "Zombielinke" nic
lte Überschrift "Zombielinke" nicht zur Versachlichung, aber zu gesteigerter Aufmerksamkeit bei. Dass es Kritik daran gab und gibt, habe ich erwartet, aber auch Albrecht Müller übt sich seit Jahren in der Kunst der aufmerksamkeitsheischenden Zuspitzung - warum nicht gleiches Recht für alle?Dennoch: Soll dieser Schlagabtausch keine publizistische Wirtshausprügelei sein, sondern der Mosaikstein einer sinnvollen Debatte über die Zukunft der Linken, müssen die Inhalte zu ihrem Recht kommen, etwa beim Thema Sozialstaat. Sollte es da nicht ein wesentliches Kriterium linker Politik sein, über die Zukunft des Sozialstaates angesichts veränderter Erwerbsformen und Lebensweisen nachzudenken? Mit der "Bürgerversicherung" liegt beispielsweise für die Krankenversicherung ein Konzept vor, alle Formen von Erwerbstätigkeit und alle wesentlichen Einkommensarten in die Solidarität mit einzubeziehen.Ebenso haben die Jungsozialisten Ende der neunziger Jahre zunächst unter dem Begriff "Arbeitsversicherung" ein Konzept vorgelegt, um die Arbeitslosenversicherung weiter zu entwickeln. Dieser Ansatz wird möglicherweise als "Beschäftigungsversicherung" im Oktober auf dem SPD-Parteitag Beschlusslage sein. Ziel ist es auch hier, eine neue sozialstaatliche Antwort auf den Wandel der Erwerbsformen zu finden.Schließlich: Ob der Sozialstaat künftig in Richtung Steuerfinanzierung umgebaut werden soll, bleibt eine Streitfrage, und vieles spricht für die Vorzüge des schwedischen Sozialstaatsmodells. Nur müssten dazu in Deutschland vor allem neben den "Reichen" eben auch die Mittelschichten zu höheren Steuerzahlungen bereit sein. Diese Akzeptanz muss die Linke langfristig aufbauen. Sie kommt nicht von selbst und schon gar nicht, wenn man so tut, als könne alles so bleiben wie es ist (oder war).Der "Geist des Kapitalismus"Stichwort Wirtschaftspolitik. Ich halte - mit Blick auf die internationale Lage - den Verweis auf den keynesianischen Instrumentenkasten zwar für richtig, aber weder für sonderlich originell, noch - mit Blick auf die internationale Lage - für sonderlich "links". Es ist erstens zu fragen, welche wirtschaftspolitischen Optionen dem Nationalstaat verblieben sind, um wachstumsförderliche makroökonomische Bedingungen herzustellen und was davon auf europäischer Ebene umzusetzen wäre. Zweitens lässt sich mit Blick auf die Finanzmarktsteuerung der Ökonomie wohl nur wenig zurückdrehen, aber sehr wohl nach Regulierung fragen. Es sind nationale und internationale Maßnahmen erforderlich, um das Finanzkapital "geduldiger" zu machen beziehungsweise wieder enger an die Realökonomie zu binden. Drittens greift eine Steigerung der Nachfrage der privaten Haushalte ins Leere, wenn nicht neue ökologisch verträgliche und gesellschaftlich sinnvolle Wachstums- und Beschäftigungsfelder erschlossen werden. Der Umbau des Energiesektors in Richtung erneuerbare Energien ist hier ein zentrales Feld, möglicherweise Träger einer neuen "langen Welle" ökonomischen Wachstums. Hier muss eine linke Wirtschaftspolitik mehr Mut zur industriepolitischen Gestaltung und zu "smarten" Formen von Investitionslenkung haben. Warum nicht fordern, dass hierzulande die Investitionsquote des Staates auf das Niveau vieler anderer EU-Staaten erhöht und dies mit einer Innovationsstrategie verbunden wird?Was den Neoliberalismus angeht, kann ich nur resümieren: quod erat demonstrandum. Klar, alles was auch nur annährend danach riecht, im gewandelten Kapitalismus - bei allen beklagenswerten kritikwürdigen Trends - nach progressiven Entwicklungen zu suchen, wird von der heiligen Inquisition als neoliberal gebrandmarkt. Produktivkraftentwicklung? Nie gehört. Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile? Kenn ich nicht.Die französischen Soziologen Luc Boltanski und Eve Chiapello sind da mit ihren Untersuchungen zum "Geist des Kapitalismus" weiter. Sie gehen der Frage nach, wie es dem postfordistischen Kapitalismus gelungen ist, mehrheitsfähig zu werden. Der "Geist" einer kapitalistischen Formation ist für sie eine Art Konsens, der den Kapitalismus hegemonial absichert und dies nur tun kann, indem er Elemente der Kapitalismuskritik in sich aufnimmt.Während der "zweite Geist des Kapitalismus" zu Zeiten des Fordismus die Sozialkritik der Arbeiterbewegung aufgenommen hat, aber diese Formation Ende der siebziger Jahre an ihre Grenzen geriet, hat der "dritte Geist des Kapitalismus" die so genannte "Künstlerkritik" am Fordismus - an Vermassung und Bürokratie - absorbiert. Die Arbeit in Projekten und Netzwerken bringt neue Freiheiten - und neue Unsicherheiten. Wer dies wahrnimmt, hat sich nicht gleich einer "neoliberalen Gehirnwäsche" unterzogen.Für Albrecht Müller freilich ist das alles "soziologisches Kauderwelsch", für ihn sind die Gesetze der Ökonomie wie Kuchenrezepte über Jahrhunderte gültig, womit wir an einem wichtigen Punkt der Debatte sind: Die Volkswirtschaftslehre - auch die keynesianische - hat eine offenkundige soziologische oder auch politökonomische Leerstelle.Spaltung der WählerDen entscheidenden Dissens aber gibt es über das politische Vorgehen. Gerät die Linke durch eine Strategie der Empörung und Entlarvung in die Offensive, wie es Müller mit seinen Büchern probiert und einige Politiker der Linkspartei versuchen? Ist es strategisch klug, den Popanz Neoliberalismus immer weiter aufzublasen? Oder müsste die Linke nicht in der Lage sein, in einer fragmentierten Gesellschaft milieuübergreifend Kritik an den Verhältnissen zu formulieren, nach neuen Solidaritätspotenzialen zu suchen und entsprechende Allianzen zu bilden?Einige hegen die Hoffnung, durch eine radikalisierte Konfrontation mit der SPD in der großen Koalition das politische Koordinatensystem wieder mehr nach links zu verschieben. Dies birgt freilich die Gefahr einer weiteren Spaltung von Bürgern und Wählern, die Träger eines möglichen künftigen Linksprojektes sein könnten. Ein solches Projekt wird es nicht geben, sollte es im Kern auf das Versprechen hinauslaufen, heutige Produktionsverhältnisse zu konservieren. Es muss ein neues Fortschritts- und Emanzipationsprojekt sein.Manche Thesen derer, die ich "Zombielinke" genannt habe, erinnern mich an das, was Marx und Engels im Kommunistischen Manifest einen "kleinbürgerlichen Sozialismus" nannten: "Dieser Sozialismus zergliederte höchst scharfsinnig die Widersprüche in den modernen Produktionsverhältnissen. Er enthüllte die gleisnerischen Beschönigungen der Ökonomen. Er wies unwiderleglich die zerstörenden Wirkungen der Maschinerie und der Teilung der Arbeit nach, die Konzentration der Kapitalien und des Grundbesitzes, die Überproduktion, die Krisen, den notwendigen Untergang der kleinen Bürger und Bauern, das Elend des Proletariats, die Anarchie in der Produktion, die schreienden Missverhältnisse in der Verteilung des Reichtums ... Seinem positiven Gehalte nach will jedoch dieser Sozialismus entweder die alten Produktions- und Verkehrsmittel wiederherstellen und mit ihnen die alten Eigentumsverhältnisse und die alte Gesellschaft, oder er will die modernen Produktions- und Verkehrsmittel in den Rahmen der alten Eigentumsverhältnisse, die von ihnen gesprengt wurden, gesprengt werden mussten, gewaltsam wieder einsperren. In beiden Fällen ist er reaktionär und utopisch zugleich."