Alle wollen plötzlich mitreden, wenn Verbrechen wie jüngst in München oder Ansbach passieren. Aber wer hat in dieser Situation wirklich etwas zu sagen?
Mit unfassbarer Grausamkeit haben zwei jugendliche Männer im Alter von 17 und 18 Jahren einen Mann mittleren Alters auf Münchner S-Bahn-Gelände in wenigen Minuten erschlagen. Dieser versuchte – erfolgreich, aber zum Preis seines Lebens – vier nur wenig jüngere Jugendliche vor der gewaltsamen Erpressung durch die Täter zu schützen. Nur wenige Tage später hat ein 18jähriger Amoktäter in der beschaulichen Stadt Ansbach das altehrwürdige Carolinum-Gymnasium mit einer Spur von Gewalt überzogen. Beherztes Eingreifen durch Mitschüler und die Polizei haben offensichtlich Schlimmeres verhütet.
Jenseits jeder Schnelldiagnose stellt sich die Frage, wie sich die Gesellschaft gegen solche Taten erfolgreich wappnen kann. In die
n. In die Sprache sozialer und institutioneller Ordnung übersetzt, geht es um die Antworten, die die Kriminalpolitik dafür zur Hand hat. Allgemeiner: Wer hat auf diesem Feld das Sagen? Wir müssen hier vier Gruppen unterscheiden: Zunächst die sogenannten „Experten“, die es ja in der modernen und komplexen Gesellschaft auf fast jedem Politikfeld gibt. Sodann haben Politiker natürlich ein gewichtiges Wort in Sachen Kriminalpolitik. Die „Medien“ sind ein dritter umstrittener Akteur auf diesem politischen Terrain. Und als vierter Akteur ist es die „Gesellschaft“, die allerdings – wie die anderen genannten Akteure auch – nicht mit nur einer Stimme spricht.Die „Experten“ der Kriminalität sind zum einen natürlich die Wissenschaftler, die es eigentlich als Beobachter aus der Ferne ihrer Forschungs- und Studierstuben „wissen“ sollten: Die Kriminologen, aber auch, Psychologen und forensische Psychiater, also die den Gerichten oder Strafverteidigern zuarbeitenden Wissenschaftler.Von den in der Bundesrepublik im Vergleich zu anderen Ländern nur wenigen Kriminologen hört man zu kriminalpolitischen Themen öffentlich nur selten dezidierte Meinungen und Vorschläge. Allerdings gibt es Ausnahmen. Dazu gehört der meinungsstarke Direktor des Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen, der Rechtsprofessor Christian Pfeiffer, der wie keiner seiner Kollegen das mediale Handwerk beherrscht. Auch zu den eingangs erwähnten Straftaten hat er sich geäußert – das Geschehen in München als statistischen Zufall deklariert, den Forderungen nach verstärkter Videoüberwachung Recht gegeben und Maßnahmen gegen jugendlichen Alkoholismus politisch angemahnt. Ansonsten kommunizieren und bleiben die Kriminologen unter sich oder halten es mit den Experten der Praxis.Dies liegt allerdings auch daran, dass Expertenrat und -kompetenz derzeit nicht die Sache der Kriminalpolitik ist. Ihre Stimme und ihre langjährigen wissenschaftlichen Einsichten sind nicht gefragt. Ihre mahnenden und vielfach belegten Plädoyers gegen vermeintlich abschreckende und drastische Strafen gegen Straftäter, ihre Beteiligung an Prozessen der „Entkriminalisierung“, gar an einer Abschaffung des Strafrechts, sind längst verstummte Laute aus einer vergangenen Zeit. Obwohl diese Zeit in Wirklichkeit noch gar nicht so lange zurück liegt.Natürlich teilt man hierzulande unter Praktikern und Politikern die defätistischen Überzeugungen ihrer Kollegen aus den USA nicht, dass die Strafjustiz den ihr angesonnenen Aufgaben nicht gerecht wird; dass es das bestgehütete Geheimnis der Polizei sei, gegen die Kriminalität nur wenig ausrichten zu können. Man bleibt hierzulande alles in allem zurückhaltend gegenüber einer Tendenz in der Kriminal- und Strafpolitik, Heil und Zuflucht in dem Motto „more of the same“ zu suchen. Auf diesen Nenner brachte schon vor einigen Jahrzehnten der englische Kriminologe L. Wilkins seine Kritik an der damaligen Kriminalpolitik – lange bevor der langjährige englische Ministerpräsident der „New Labour“ – Sozialisten, Tony Blair, seiner Partei und seinem Land die kriminalpolitische Parole verordnete: „tough on crime and tough on the causes of crime“. Ihre Eindeutschung fand diese Maxime unter der rot-grünen Regierung im „Ersten Periodischen Sicherheitsbericht“ aus dem Jahre 2001: „Entschlossen gegen Kriminalität und entschlossen gegen ihre Ursachen.“ Wie in England, so auch in Deutschland fahnden kritische Beobachter seither nach der Einlösung der zweiten Hälfte dieses kriminalpolitischen Mottos.Politik und Politiker haben auch in Deutschland gelernt, dass sich mit der Kriminalität punkten und gewinnen lässt – und dass man über sie auch stolpern, gar „verlieren“ kann. „Soft on crime“ – das leistet sich heutzutage kein Politiker mehr, auch wenn diese „Lektion“ bei uns noch nicht so augenscheinlich und drastisch einer Partei oder einem Politiker erteilt worden ist, wie dies in den USA im Präsidentschaftswahlkampf Bush sen. gegen den demokratischen Bewerber Dukakis im Jahre 1988 geschah. Des letzteren demoskopisch haushoher Vorsprung verkehrte sich durch die Kampagne wegen seiner Weigerung zur Abschaffung eines Freigänger-Gesetzes – die „Willie-Horton-Affäre“ – in sein wahlbestimmendes Gegenteil.Aber mancher mag noch erinnern, wie sich in Hamburg bei der Bürgerschaftswahl im Jahre 2001 der sozialdemokratische Wind dank des Wahlerfolgs des „Richters Gnadenlos“ Ronald Schill drehte. Dessen „Partei Rechtsstaatliche Offensive“ hatte als „Ein-Punkt-Partei“ aus dem Stand heraus mit dem einzigen Programmversprechen der Bekämpfung der Kriminalität 19,4 Prozent der Stimmen eingefahren. Diese reichten, um der CDU den Weg in die Regierung zu ebnen.Und natürlich dürfen die Medien im Reigen der kriminalpolitischen Akteure nicht fehlen. Diese werden von Kritikern einer harschen Kriminalpolitik gerne als „Einpeitscher“ eines repressiven Klimas in der Gesellschaft angeprangert. Dass es eine spezifische „Medienkriminalität“ gibt, wie jemand mal die Kriminalität genannt hat, über die Medien bevorzugt berichten, ist ebenso unbestritten, wie die Tatsache, dass Berichte über steigende Kriminalität eher auf den vorderen, sinkende auf den hinteren Seiten einer Zeitung anzutreffen sind.Gleichwohl kommt der Verweis auf die Medien häufig einem allzu bequemen Kurzschluss gleich, mit dem man sich der weiteren Suche nach unbequemen Zusammenhängen entzieht. Zumal in Gesellschaften, in denen die Medien dem unerbittlichen ökonomischen Regime der Auflagenhöhe beziehungsweise der Einschaltquoten unterworfen sind. Diese aber sind in die Hände der Leser, Zuschauer und Hörer delegiert. Die Medien erzeugen nicht autonom und beliebig die Bedürfnisse nach Kriminalität und Gewalt, die sie in ihren Spalten und Sendungen bedienen.Was aber macht so viele Mitglieder der Gesellschaft so anfällig für Bilder und Geschichten der Gewalt? Wieso sind sie so willige Adressaten des medialen infotainment auch in der Welt der Kriminalität, der Umwandlung und des Einsatzes des Bösen zum Zwecke der Unterhaltung und der Zerstreuung? Warum haben Reality-Shows im Dschungel-Camp voller Würmer und Getier erkleckliche Einschaltquoten? Warum ergötzt man sich an Leid, Unglück und Missgeschick von Nachbarn, Freunden und Kollegen? Was fasziniert an Gewalt? Was agiert sich aus, wenn aus der Gesellschaft der Ruf nach mehr Härte gegen Straftäter gefordert wird, wenn unsere Gerichte und Richter der Milde und Nachsicht gescholten werden, wenn Gefängnisse des Hotel- bzw. Kuschelvollzugs geziehen werden? „Rübe-ab“-Rufe sind nicht selten und nicht nur hinter vorgehaltener Hand zu hören.Das alles sind Feststellungen in Frageform, die sich vielfältig belegen lassen und wohl von den meisten Lesern aus eigenen Beobachtungen und Erfahrungen abgerufen werden können. Auch denke ich, dass die meisten Leser ihre eigenen Antworten darauf haben. Ebenso werden nicht wenige von ihnen in eine Richtung denken, die der französische Kriminologe Lacassagne schon vor mehr als hundert Jahren für die Kriminalität formuliert hat: „Gerechtigkeit verkümmert, Gefängnis korrumpiert und die Gesellschaft hat die Verbrecher, die sie verdient.“ Dies lässt sich gleichermaßen auf den Umgang der Gesellschaft mit ihren Übeltätern übertragen.Womit aber hat die Gesellschaft es denn verdient? Das lässt mich noch einmal an den Beginn dieser Überlegungen zurückkehren. Die brutalen Jugendlichen lassen sich als Produkte einer Haltung und Subkultur begreifen, die ein amerikanischer Kriminologe auf den Nenner gebracht hat: „the entitlement to cruelty“ – die „Lizenz zur Grausamkeit“. Die „Logik“ einer Gesellschaft, die den Kult des Individuums und seine „Emanzipation“ aus gesellschaftlichen Zwängen, Institutionen und Traditionen „fördert und fordert“, jedes Mitglied zum Unternehmer seiner selbst erklärt, muss mit dem Missverständnis einer „Ich-AG des Bösen“ und der Aufforderung „Regiere dich selbst“, wie ich sie gerade an einer großflächigen Hauswand als Werbespruch für Bionade im Hamburger Schanzenviertel gelesen habe, rechnen. An deren Grenzen drohen alle herkömmlichen Mittel der Kriminalpolitik zu zerschellen.