Angesichts der bevorstehenden Entlassung von bis zu 80 Straftätern aus der Sicherungsverwahrung erleben wir momentan eine massenmedial inszenierte Hysterie, die nahezu täglich neue populistische Vorschläge über den Umgang mit entlassenen Sexualstraftätern produziert. Nach der von der Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) vorgeschlagenen Überwachung von freigelassenen Schwerverbrechern mit elektronischen Fußfesseln, fordern nunmehr einige Politiker einen „Internet-Pranger“. Name, Anschrift und Foto des Freigelassenen sollen im Netz veröffentlicht werden, damit die Nachbarschaft über den Aufenthaltsort „des Bösen“ Bescheid weiß. Rainer Wendt, der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, e
, einer der Befürworter des Internet-Prangers, sagte in der Bild am Sonntag: "Ich will wissen, wenn ein Vergewaltiger in der Nachbarschaft meiner Enkelin wohnt". CDU-Innenpolitiker Reinhard Grindel und der CSU-Politiker Norbert Geis begrüßten diesen Vorschlag und wollen prüfen, ob dies rechtlich machbar ist.Im modernen Zeitalter des Internets scheinen einige Brauchtümer des Mittelalter wieder Konjunktur zu haben. Der Pranger oder Schandpfahl war ein Strafwerkzeug in Form einer Säule, an dem der Delinquent gefesselt und öffentlich vorgeführt wurde. Ab dem 13. Jahrhundert wurde der Pranger insbesondere zur Vollstreckung von Ehrenstrafen eingesetzt. Die Strafe bestand vor allem in der öffentlichen Schande, welche der Verurteilte zu erdulden hatte und die vielfach ein „normales“ Weiterleben in der Gemeinschaft unmöglich machte oder sehr erschwerte. Auch war der Bestrafte den Schmähungen der Bürger ausgesetzt, die für ihn nicht ungefährlich waren.Das Zeitalter der Aufklärung ist vergessen, der Rückfall in die Barbarei scheint einigen Freude zu bereiten. Der Mob wartet bereits auf seine Gelegenheit, endlich mal wieder lynchen zu dürfen. Ja, die Nachbarschaft rafft sich eigenmächtig zusammen und nimmt sich die persona non grata in der Nacht vor. Der Straftäter darf zwar aus dem Gefängnis, aber zurück in die Gesellschaft wird er so nicht finden. So wird das rechtliche Niemandsland der Sicherungsverwahrung gesellschaftlich aufrechterhalten.Mittlerweile sind bundesweit 15 als gefährlich geltende Straftäter auf der Basis des Europäischen Gerichtsurteils aus der Sicherungsverwahrung entlassen worden. Der Fall Hans-Peter W. in Hamburg veranschaulicht die Problematik. Seit Anwohner in Hamburg gegen Hans-Peter W. demonstrierten, hat der GAL-Rechtsexperte Farid Müller zu Besonnenheit aufgerufen. Es gebe "keinen Grund zur Panik": Der Entlassene dürfe sein Haus nicht ohne Begleitung verlassen und werde rund um die Uhr betreut. Der Anwalt des Entlassenen, Bernd Behnke, warnte vor einer "Menschenjagd": Es sei unfassbar, dass jemand, der nach 30 Jahren aus der Haft entlassen wurde, gehetzt werde, sagte er der Hamburger Morgenpost. Inzwischen sind 24 Beamte im Einsatz, die Hans-Peter W. Tag und Nacht observieren. Hans-Peter W. ist bereits mehrere Male innerhalb Hamburgs umgezogen, weil Anwohner gegen ihn protestierten. Wo er sich derzeit aufhält, ist geheim.Aber auch die „anständige Nachbarschaft“ kann sich seit dem Auftauchen von Internetplattformen wie www.rottenneighbor.com (übersetzt: mieser Nachbar) oder www.meine-nachbarschaft.de nicht mehr sicher sein, wer der „Gute“ und wer der „Böse“ ist. Auf diesen Internetportalen kann jeder über seinen Nachbarn lästern, ihn beschimpfen oder gar diskreditieren. Eine wunderbare Spielwiese, um seinen Nachbarn, aus welchen Grund auch immer – vielleicht passt einem nur die Stimme nicht – mal richtig eine auszuwischen. Was mache ich, falls mein Nachbar unter Pseudonym mich im Internet als Kinderschänder darstellt? Wie kann ich mich dagegen wehren? Die Wahrscheinlichkeit ist recht groß, dass mein Ruf blitzschnell erledigt sein wird.Der gute alte Rufmord, der wunderbare Pranger, die geniale Fußfessel und die saubere Lynchjustiz erleben gerade im Internet ein bezauberndes Revival! Weiter so, ich freue mich schon auf die nächsten Vorschläge. Wie wäre es zum Beispiel, wenn wir die GPS-Daten der elektronischen Fußfessel direkt ins Internet stellen, damit jeder in Echtzeit darüber informiert wird, wo sich der „böse Sexualverbrecher“ gerade befindet? Dann könnte jeder anständige Bürger den Verbrecher verfolgen und ihm mal so richtig die Meinung sagen. Bei all den berechtigten Sorgen über die Rückfallgefahr von Sexualstraftätern sollten wir darauf achten, die humanitären Grundlagen unseres Rechtsstaates einzuhalten und nicht einem billigen Populismus verfallen, der letztendlich nur zu Mord und Totschlag führt.