Vor einigen Tagen war die Stimme des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) wieder deutlich zu hören. Das Gericht entschied, dass Griechenland Asylbewerber unmenschlich und erniedrigend behandele. Geklagt hatte ein afghanischer Asylbewerber, der im Juni 2009 in Athen mehrere Tage auf engstem Raum mit wenig Wasser und Nahrung festgehalten worden war. Gegen Belgien richtete der Gerichtshof denselben Vorwurf; denn der Afghane hatte zunächst in Belgien Asyl beantragt. Belgien hat ihn aber zurück nach Griechenland geschickt.
Faktisch rügt der Gerichtshof mit diesem Urteil auch die Europäische Union und ihre Asyl- und Abschottungspolitik, namentlich die Dublin-II-Verordnung. Danach sollen Asylbewerber in dem Mitgliedsstaat der EU ihren Asylantrag st
lantrag stellen, den sie zuerst betreten haben. Damit verlagern sich die Probleme auf die europäischen Außengrenzen. An der griechisch-türkischen Landesgrenze wurden 2010 etwa 34.000 Flüchtlinge und Migranten aufgegriffen. Nun haben aber im Vorgriff oder als Reaktion auf die Entscheidung mehrere Staaten Abschiebungen nach Griechenland gestoppt: ein deutlicher Erfolg für den EGMR.Zum Januar dieses Jahres hat auch Angelika Nußberger aus Deutschland ihren Dienst am EGMR aufgenommen. Damit ist sie eine von 47 Richtern und Richterinnen, die von den 47 Unterzeichnerstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention nach Straßburg entsandt werden. Die 47-Jährige ist Professorin für Völker- und Verfassungsrecht und hat zuvor das Institut für Ostrecht an der Uni Köln geleitet. Sie folgt der Deutschen Renate Jäger.Monatelanges GeschacherDie Besetzung von Nußbergers Stelle lief ganz anders als das monatelange Geschacher um die Besetzung des Bundesverfassungsgerichts: Nußberger hat sich – auf Anregung von Kollegen und Studenten – auf eine Ausschreibung des Bundesjustizministeriums beworben. Erstmalig war die Stelle ausgeschrieben worden, um die Politik aus der Besetzung herauszuhalten. Aus den besten drei Kandidaten wählte die parlamentarische Versammlung des Europarates Nußberger für eine Amtszeit von neun Jahren aus.Nußberger kann nun die Rechtsprechung einer wirkmächtigen und breit akzeptierten Menschenrechtsinstanz mit gestalten. Der EGMR kann von jeder Person angerufen werden, die sich durch einen der Staaten, die die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet haben, in ihren Menschenrechten verletzt sieht. 2010 gingen beim EGMR 61.300 neue Beschwerden ein. Insgesamt sind damit 140.000 Fälle beim EGMR anhängig. 1.500 Urteile hat der Gerichtshof 2010 gefällt, besonders häufig gegen Russland und die Türkei – dort fehlt den Bürgern ein rechtsstaatliches Verfahren gegen Menschenrechtsverletzungen im Land.Aber auch Deutschland trifft mancher Urteilsspruch aus Straßburg. So entschied der Gerichtshof im Dezember 2009, dass die Begrenzung der Sicherungsverwahrung auf zehn Jahre nicht rückwirkend aufgehoben werden dürfe. Als Reaktion darauf ist seit diesem Januar das Therapieunterbringungsgesetz in Kraft. Das Gesetz erlaubt, die zu entlassenden Sicherungsverwahrten doch wieder einzusperren, wenn zwei Gutachten bestätigen, dass sie „psychisch gestört“ und deshalb gefährlich sind. Vor wenigen Wochen erklärte der EGMR jedoch, dass die Sicherungsverwahrung nicht nachträglich verhängt werden dürfe. Das verlangt eigentlich eine erneute Änderung des gerade erst reformierten Gesetzes.Umgang mit ReligionenDie aktuelle Diskussion um die Sicherungsverwahrung zeigt die Schwierigkeiten, die Deutschland bei der Umsetzung von Urteilen des EGMR haben kann. Denn darin werden Menschenrechtsverletzungen deutlich benannt, ohne aber Lösungen vorzuschlagen. Dagegen ist das Bundesverfassungsgericht der Politik doch etwas stärker verpflichtet und räumt auch schon mal Übergangsfristen ein oder fordert „nur“ ein Bundesgesetz. So geschehen im Fall der Sicherungsverwahrung. 2004 verbot das Verfassungsgericht nur den Ländern, nicht aber dem Bund, die nachträgliche Sicherungsverwahrung gesetzlich zu verfügen. Am 8. Februar wird „Karlsruhe“ erneut zur Sicherungsverwahrung verhandeln und sich mit „Straßburg“ beschäftigen müssen.Eine wichtige Rolle kommt dem EGMR beim staatlichen Umgang mit Religion zu. Alle europäischen Staaten sind noch auf der Suche, welchen Platz die Religion in Gesellschaft und Staat haben soll. Dabei verlangt der Gerichtshof immer wieder, einerseits die Religionsfreiheit aus Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention zu wahren. Andererseits gesteht der Gerichtshof den Mitgliedstaaten aber einen großen Spielraum zu. So hat der EGMR mehrmals Kopftuchverbote in Frankreich und der Türkei unter Verweis auf den dortigen Laizismus gebilligt. Zugleich entschied er aber 2010, dass einer religiösen Gruppe in der Türkei erlaubt werden müsse, sich gemäß ihrem Glauben in der Öffentlichkeit zu kleiden. Deshalb wird erwartet, dass der EGMR die Burkaverbote in Frankreich und Belgien nicht billigen wird. Im Laufe des Jahres muss die große Kammer des EGMR darüber befinden, ob sie das Verbot von Kreuzen in italienischen Klassenzimmern aufrechterhält.Asylrecht, Kreuze und vermutlich demnächst das ungarische Mediengesetz – für alle Themen gilt, was Angelika Nußberger kürzlich im Interview sagte: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist keine schnelle Eingreiftruppe. Sollte es aber zu einem Grundsatzurteil kommen, kann der Gerichtshof „sehr klar Stellung nehmen“.