Die Weichen stehen auf Tieferlegung: Eine klare Mehrheit der Baden-Württemberger ist für Stuttgart 21. Jetzt muss Grün-Rot dem Projekt den eigenen Stempel aufdrücken
Am Ende sind es 1,5 von 3,7 Millionen – das ist deutlich zu wenig. Nur 41,2 Prozent der abstimmenden Baden-Württemberger haben am Sonntag gegen das Milliardenprojekt Stuttgart 21 votiert. Die Gegenseite, die Befürworter des Tiefbahnhofs, kann 58,2 Prozent der abgegebenen Stimmen für sich verbuchen. Eine überraschend klare Mehrheit im Land will Stuttgart 21. „An einem solchen Tag kann ich nicht erleichtert sein“, verbirgt Winfried Kretschmann (Grüne) seine Enttäuschung nicht. Die Bürger im Ländle haben sich rege an der Volksabstimmung beteiligt: 48,3 Prozent sind ins Wahllokal gegangen oder haben ihr Votum per Briefwahl abgegeben. Die erfreulich hohe Wahlbeteiligung ist so ziemlich das einzige, was Kretschmanns Mundwinkel an diesem A
hmanns Mundwinkel an diesem Abend für einen Augenblick nach oben ziehen kann: „Das Volk hatte das letzte Wort, das ist ein Sieg für die Demokratie.“ Der baden-württembergische Ministerpräsident, erklärter Freund eines modernisierten Kopfbahnhofs, hatte im Vorfeld der Volksabstimmung auf ein Wunder gehofft. Das Wunder bleibt aus.Nacheinander werden die Ergebnisse der einzelnen Wahlkreisen bekannt, aus einer Ahnung wird Gewissheit. Das Resultat der ersten Volksabstimmung in Baden-Württemberg seit 1971 hat ein viel stärkeres Gewicht als jeder Schlichterspruch oder Stresstest dieser Welt. Der Volkswille hat etwas Finales, für weite Teile des S21-Widerstands ist er ein Schlag ins Genick. „Für mich ist der politische Widerstand damit eingestellt,“ streicht Boris Palmer (Grüne), Tübinger Oberbürgermeister und einer der profiliertesten S21-Gegner, die Segel. „Das Volk hat entschieden: Die Mehrheit ist gegen den Ausstieg.“Palmer tut dies, obwohl die Welt in seiner Stadt ganz anders aussieht: 57,7 Prozent stimmen in der Universitätsstadt für den Ausstieg, 42,3 Prozent dagegen. Wegen der überdurchschnittlich hohen Wahlbeteiligung erreichen die ausstiegswilligen Tübinger rein rechnerisch sogar das Quorum von einem Drittel aller Wahlberechtigten. Konsequenzen hat das Mini-Wunder freilich keine. Palmer kündigt an, in Zukunft die Rolle des Kontrolleurs spielen zu wollen: „Ich frage in zehn Jahren wieder, ob die Kosten eingehalten wurden – die Geschichte wird es klären.“Der Spannungsbogen reißt nicht abDie Geschichte eines der umstrittensten Großprojekte der Nachkriegszeit geht also weiter, und ein Abreißen des Spannungsbogens ist nicht abzusehen. Die im März abgewählte Landesregierung unter Stefan Mappus (CDU) und seinen Vorgängern drückte sich vor einer Volksabstimmung, der Stuttgarter Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) fürchtete sich vor dem Willen des Volkes. Über die jetzt – ausgerechnet auf Wunsch einer grün-roten Landesregierung – geschaffene Klarheit dürfte sich keiner mehr freuen als genau diese beiden. Auch Bahnchef Rüdiger Grube und eine Reihe anderer S21-Fans gehört zu dieser Riege, und selbst der Kanzlerin wird ein Stein vom Herzen gefallen sein, als sie vom Ausgang der Volksabstimmung erfuhr.Bei aller Freude darf man eines nicht vergessen: Durch das Plebiszit ist der geplante Tiefbahnhof nebst Neubaustrecke keinen Deut besser geworden – geschweige denn günstiger. Das gefährliche Gefälle der engen Bahnsteige ist nicht geringer geworden, das Risiko des Grundwassereingriffs kein bisschen kleiner, und die bevorstehende Zerstörung des Schlossgartens und des denkmalgeschützten Südflügels des Hauptbahnhofs haben nichts von ihrer Brutalität eingebüßt. Viele offene Fragen sind ungeklärt, die Bahn hält sich in Sachen Finanzierung noch immer bedeckt. Grün-Rot ist jetzt gefordert und muss dem bisherigen Streitthema der Koalition einen vernünftigen Anstrich geben. Das eigentliche Wunder wird darin bestehen, die bekannten Schwächen von Stuttgart 21 zu beseitigen, ohne dabei den Kostendeckel von 4,5 Milliarden Euro zu sprengen. Für viele Menschen ist genau das der wunde Punkt: Mehr Qualität zum gleichen Preis gibt’s nicht einmal bei den cleveren Schwaben.Die Mehrheit im Land ist für den Bau. Für einige mag der politische Widerstand vorbei sein, der zivile Widerstand wird weitergehen – auch wenn der Zuspruch aus der Bevölkerung abnimmt. „Die 101. Montagsdemo ist schon längst angemeldet“, erklärt der Sprecher der Parkschützer. „Wir leisten so lange Widerstand, bis das Projekt Stuttgart 21 beendet ist.“ Man muss kein Augur sein, um vorherzusagen: Die deutsche Protesthauptstadt Stuttgart wird auf absehbare Zeit nicht aus den Nachrichten verschwinden. Wenn der Südflügel des Hauptbahnhofs und die Bäume im Park fallen, ist ein Aufeinandertreffen von Demonstranten und Staatsgewalt unausweichlich. Nicht nur das grün-rote Kabinett wird dann erfahren, was das „letzte Wort“ des Volkes wirklich wert ist.