Viele US-Bürger sind erschüttert über die Szenen eines zügellosen Polizeieinsatzes, deren Zeuge sie wurden, als die Beamten Occupy-Camps in New York und anderen Städten räumten. Neben Pfefferspray und Schlagstöcken gegen Demonstranten gab es offenbar auch gezielte Aktionen gegen Journalisten, wie eine Anfrage der Nationalen Journalistenvereinigung im Rahmen des Freedom of Information Act nahelegt. In der New York Times war zu lesen, dass „New Yorker Polizisten Reporter und Fotografen, die über die Proteste berichteten, verhafteten, schlugen, zu Boden stießen und eine Absperrung auf sie fallen ließen“. Journalisten bekamen zu hören, es sei verboten, vom Bürgersteig aus zu fotografieren – wer sich nicht daran halte
Politik : Erste Schlacht im Bürgerkrieg
Die Polizeigewalt gegen die Camps der Occupy-Bewegung in mehreren Städten ist kein Zufall. Die Aktivisten haben ein Tabu berührt – die Käuflichkeit vieler Politiker
Von
Naomi Wolf
Übersetzung der gekürzten Fassung: Holger Hutt
lte, müsse mit Haft rechnen. In New York wurde ein Richter des Supreme Court verprügelt, im kalifornischen Berkeley Robert Hass, einer der bedeutendsten Dichter Amerikas, mit Schlagstöcken malträtiert. Das Bild verdunkelt sich weiter, wenn etwa Washingtonsblog.com den Bürgermeister von Oakland zitiert, das Ministerium für innere Sicherheit habe an einer Konferenz von 18 Bürgermeistern teilgenommen und diese im Niederschlagen von Protesten unterwiesen.Europäer mögen das Ungeheuerliche dieses Vorgangs nicht sofort begreifen, aber das US-Regierungssystem verbietet Zusammenschlüsse zu föderalen Polizeikorps sowie eine Teilnahme der Bundespolizei oder Armee an Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Doch zeigt sich inzwischen, wie das Vorgehen gegen Occupy Wall Street (OWS) von höchster staatlicher Ebene ausging.Logik der BefehlsketteWarum diese massive Mobilisierung gegen Unbewaffnete, die noch nicht einmal Forderungen formuliert haben? Proteste gegen den Irak-Krieg und Kundgebungen der Tea Party kamen doch auch ohne einen solchen Tabubruch aus. Ich konnte das nicht verstehen, bis ich herausfand, was Occupy Wall Street tatsächlich will. Frustriert über die in den Mainstream-Medien unablässig kolportierte These, OWS habe keine Forderungen, fragte ich einfach selbst nach. Die Frage Was wollt ihr? stand gerade 15 Minuten im Netz, da hatte ich bereits 100 Antworten erhalten.Punkt eins auf der OWS-Agenda: das Geld aus der Politik herausholen und finanzielle Zuwendungen durch Lobbyisten beschränken. Punkt zwei: Reform des Bankensystems, um Betrug und Manipulation zu verhindern. Den Glass-Steagall-Act wiedereinführen – ein Gesetz aus der Zeit der Großen Depression, das Investmentbanken von Geschäftsbanken trennt. Ein solches Dekret würde es Ersteren unmöglich machen, Finanz-Derivate zu verkaufen, die nur aus heißer Luft bestehen und damit Handels- und Sparbanken gefährden.Punkt drei brachte die größte Klärung: Es soll politisch verhindert werden, dass Mitglieder des US-Kongresses Gesetze verabschieden, die Unternehmen betreffen, in die sie selbst investiert haben. Als ich diesen Katalog – besonders den letzten Punkt – sah, wurde mir einiges klar.Das Ministerium für Innere Sicherheit (DHS ) kann nicht einfach von sich aus sagen: „Diese dreckigen Hippies knöpfen wir uns jetzt vor.“ Es ist weisungsgebunden, das Ressort untersteht dem Vorsitzenden des Unterausschusses für Homeland Security, Peter King, der wiederum unter dem Einfluss der Interessen seiner Kongress-Kollegen steht. Und es gehorcht dem Präsidenten, der freilich zum Zeitpunkt der Räumungsaktionen Australien besuchte. Mit anderen Worten, die Logik der Befehlskette impliziert: Die Aufsichtspersonen im Kongress haben mit dem Plazet des Weißen Hauses das DHS angewiesen, Bürgermeister zu autorisieren, der Polizei Order zum gewaltsamen Vorgehen gegen friedliche Demonstranten zu geben. Weshalb – das liegt auf der Hand: Seit Jahren kommen neue Kongressmitglieder vorrangig aus der oberen Mittelschicht. Wenn sie den politischen Betrieb als Eingeweihte wieder verlassen, haben sie gewaltige Vermögen angehäuft, was man dem „Skandal“ um den republikanischen Präsidentschaftsbewerber Newt Gingrich entnehmen kann, der für ein paar Stunden Beratung 1,8 Millionen Dollar Honorar kassierte.Die beachtlichen Einkünfte für ehemalige Gesetzgeber, die zu Lobbyisten werden, sind bekannt. Weit weniger Leute wissen hingegen, dass Kongressabgeordnete Gesetze erlassen können, die eigene Unternehmen betreffen. Wären die Bücher offengelegt, würde mit Sicherheit eine massive Korruption ruchbar. Abgeordnete verdienen prächtig am Geschäft mit nicht öffentlichen Informationen, die sie über Unternehmen haben, für die sie Gesetze erlassen – ein klarer Insiderhandel.Brüder und SchwesternDa Occupy stark überwacht und infiltriert wird, kann man davon ausgehen, dass die Informanten des Ministeriums für Innere Sicherheit und der Polizei noch vor Occupy selbst wussten, wie die im Entstehen begriffene Agenda aussehen würde. Wenn die Bewegung im Begriff ist, Gesetze gegen die Privilegien der Lobbyisten und eine Reform der Banken zu verlangen, so dass es künftig unterbunden wird, mit faulen Derivat-Produkten Geld zu verdienen – wenn Occupy weiter fordert, ein System transparent zu machen, das es Kongressmitgliedern erlaubt, von eigenen Gesetzen zu profitieren, dann wird klar, dass ein Interesse bestand, derartige Vorstöße zu verhindern.Wenn man alles zusammenführt und versteht, lässt sich das rigorose Vorgehen gegen die Protest-Bewegung durchaus als die erste Schlacht eines Bürgerkrieges deuten, bei dem für den Augenblick nur eine Seite zur Gewalt greift. Mit dem Angriff auf die persönlichen Einkommensquellen der Abgeordneten hat Occupy ein Tabu berührt. Auch wenn den Aktivisten momentan gar nicht bewusst sein sollte, was sie getan haben – diejenigen, die sich davon bedroht fühlen, wissen es. Damit sind viele Amerikaner zu wirklichen Brüdern und Schwestern der Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo geworden: Wie in Ägypten hat nun auch in den USA das politische Establishment der Protest-Szene den Krieg erklärt – es fürchtet um seinen Lebensstandard.