Eine Enquete-Kommission sucht nach einer neuen Leitidee und fragt: Wie ändert sich die Politik, wenn das Bruttoinlandsprodukt nicht mehr der Maßstab aller Dinge ist?
Seit über einem Jahr bahnt sich ganz im Stillen eine kleine Revolution an. Im Sitzungssaal E 700 im Paul-Löbe-Haus, mitten im Regierungsviertel, treffen sie sich jeden ersten Montag im Monat 17 Parlamentarier und 17 Wissenschaftler, darunter ein paar der klügsten Köpfe des Landes, um ihren unerhörten Plan voranzubringen: Sie wollen der Bundesrepublik eine neue Leitidee verpassen – und die alte aussortieren: das Wachstum.
In der öffentlichen Debatte geht derzeit ja einiges durcheinander. Linke werben in Europa für Wachstumsprogramme, während Konservative da eher zurückhaltend sind. Auf lange Sicht ist es umgekehrt. Ökologen betonen die Grenzen des Konzepts, während die Marktapostel es für unantastbar erklären. Das Wirtsch
as Wirtschaftswachstum ist vom Gründungsmythos der Bundesrepublik zum Dogma aufgestiegen. Ohne Wachstum ist alles nichts, so denken viele Deutsche, ohne Wachstum geht unser Wohlfahrtsstaat zugrunde und die Demokratie gleich mit. So haben es Generationen von Politikern in die Hirne ihrer Wähler einmeißelt. Nach wie vor gilt das Bruttoinlandsprodukt, also die Gesamtheit aller jährlich im Inland produzierten Waren und Dienstleistungen, als Maß aller Dinge.Kein Wunder also, dass es Daniela Kolbe nicht einfach hat. Die SPD-Politikerin leitet die Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“, also die Truppe der 34 Denker, die dem starren Wachstumsbegriff den Kampf angesagt haben. Einer Mischung aus Ablehnung, Desinteresse und überzogenen Erwartungen müssen sie sich erwehren, wenn sie Fragen wie diese stellen: Wie wollen wir leben? Und nach welchem Maßstab? Können wir uns eine Welt vorstellen ohne Wachstum? Oder müssen wir nicht gerade das tun?Denn 40 Jahre nach dem ersten Bericht des Club of Rome über die „Grenzen des Wachstums“ hat sich nicht viel zum Positiven gewendet, eher im Gegenteil: Die Rohstoffe der Erde werden weiter geplündert, Weltmeere leer gefischt, Äcker überdüngt, Wälder gerodet. Nicht mehr umkehren lassen sich Artensterben und Klimawandel, der sich einem neuen Bericht des Club of Rome zufolge in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts dramatisch verschärfen wird.Wachstum als SelbstzweckErst die Exzesse der Finanzmärkte und das Ausufern der Staatsverschuldung haben wirklichen Handlungsdruck erzeugt. Die Enquetekommission soll nun einen Weg aufzeigen, wie sich der Karren aus dem Dreck ziehen lässt. Und immerhin konnten sich deren Mitglieder schon auf eine Diagnose verständigen: dass die Wachstumsgesellschaft in der Krise steckt, während die Debatte über die Wirtschaftsordnung auf dem Stand Anfang der siebziger Jahre verharrt, als nur die positiven Folgen des Wirtschaftswachstums sichtbar waren. Weil auch die Wachstumsraten immer mehr abnehmen würden, sei es nicht mehr zeitgemäß, sich auf das Bruttoinlandsprodukt zu fixieren. Ein ganzheitlicher Maßstab zur Messung von Wohlstand und Fortschritt muss her, ein Satz aus Indikatoren, der Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft mit einschließt. Der Plan: Ändert sich erst der Blickwinkel, ändert sich auch die Politik.Wie die aber genau aussehen soll, ist umstritten: Die einen sehen im Wachstum auf lange Sicht kein Problem, weil die Technik immer umweltschonender werde. Andere fordern einen „New Green Deal“, einen ökologischen Umbau der Gesellschaft, mit einer starken Rolle des Staates. Weniger technikoptimistisch sind jene, die dazu aufrufen, Wohlstand ohne Wachstum zu denken. Schließlich plädieren Kapitalismuskritiker für eine „degrowth“-Strategie, weil der Kapitalismus die Zerstörung der Umwelt und der Gesellschaft antreibe. In einem sind sich die meisten aber einig: Einfach wird es nicht, die negativen Seiten des Wachstums in den Griff zu kriegen. Als Haupthindernis hat die Kommission den Rebound-Effekt ausgemacht, der mit der Vorstellung aufräumt, dass weniger Verbrauch schädliches Wachstum schon bändigen werde: So verbraucht ein effizienter Motor zwar weniger Sprit. Weil aber das Fahren günstiger wird, nutzt der Fahrer das Auto womöglich mehr. Unterm Strich können Effizienzgewinne aufgefressen werden – wenn etwa Wälder gerodet werden, damit Pflanzen für die Gewinnung von Biosprit angebaut werden können.Gegensteuern kann die Politik mit Obergrenzen: die Energie- und Rohstoffpreise anheben, parallel zur Steigerung der Effizienz. Wachstum ist nicht gleich Wachstum, ein geschärfter Blick ist nötig, welches Wachstum sinnvoll ist und welches nicht. Angesichts dieses Diskussionsstandes ist es schon erstaunlich, dass ein Politiker wie der FDP-Chef Philipp Rösler den Club of Rome mit den Zeugen Jehovas vergleicht, die ihre Weltuntergangsprognose immer wieder von morgen auf übermorgen verschöben. Wer Wachstum ablehne, so Rösler, sei ein „Gegner der Marktwirtschaft“.Nicht Ziel, sondern Mittel„Das hat die Sache nicht gerade vereinfacht“, sagt Kolbe. Grünen-Obmann Hermann Ott meint zu beobachten, dass sich manche FDP-Mitglieder weniger auf die Arbeit in der Kommission einließen. Ein Teil will im Wirtschaftswachstum kein Problem erkennen. Andere wie die Liberale Judith Skudelny haben dazugelernt, stoßen aber in ihrer Fraktion auf Desinteresse. „Vor diesem Hintergrund erscheint es beinahe schon als ein Durchbruch, dass sich ein Konsens in der Kommission abzeichnet, Wachstum nicht als Ziel verstehen zu wollen, sondern als Mittel“, sagt Kommissionsvizechef Matthias Zimmer (CDU).Enquetekommissionen haben öfters zu einer Neuausrichtung der Politik geführt, wie jüngst im Falle der Klima-Enquete. Ob das auch diesmal gelingt, ob Deutschland von der Idee des ewigen Wachstums loskommt, steht noch aus; denn die Debatte über konkrete Vorschläge beginnt gerade erst. Einige Kommissionsmitglieder zweifeln schon, ob es am Ende überhaupt zu Handlungsempfehlungen kommt.Zumindest für sich selbst hat Daniela Kolbe etwas gelernt. Überrascht hat sie ihr ökologischer Fußabdruck (die Fläche, die für den Lebensstandard eines Menschen nötig ist). Obwohl sie Vegetarierin ist und kein Auto hat, lag der Wert über dem Durchschnitt – weil sie viel unterwegs sei. „Ich nehme meine Umwelt jetzt bewusster wahr“, sagt Kolbe. „Aber dafür habe ich auch öfters ein schlechtes Gewissen.“