Kultur
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Gebaut, um zu stören
Meistens nervt der Wecker, statt uns das Leben leichter zu machen. Lange war er ein Privileg für Wohlsituierte. Heute ist es umgekehrt, sagt unsere Autorin
Es gibt Menschen, die glauben, die Schlummertaste ihres Weckers sei eine der größten Erfindungen der Menschheit. Schließlich können Langschläfer und Morgenmuffel damit das allmorgendliche Aufstehen beliebig im Fünfminuten-Takt hinauszögern. Andere dagegen bezeichnen diese Art des Erwachens eher als qualvoll. Deshalb kann der ambivalente Knopf zum echten Prüfstein werden, wenn ein Paar zusammenzieht: Während der eine nicht versteht, wie man von Null auf Hundert in den Tag starten kann, empfindet der andere den Schlummer im Fünfminuten-Takt als Zumutung.
Von seiner Aufgabe her ist der Wecker dabei kein Gerät, das unseren Alltag bequemer macht, sondern ein Störenfried. Auch wenn er in der modernen Gesellschaft ein notwendiges Übe
s Übel ist. Wer kann es sich heute noch leisten zu verschlafen? Unverzichtbar wurde der Wecker ab Mitte des 19. Jahrhunderts, seit das künstliche Licht unseren natürlichen Tagesablauf durcheinander gebracht hat. Davor hielten sich die Betuchten im alten Rom Wecksklaven. Auf dem Land, bevor die Menschen in die erleuchteten Städte zogen, dirigierte die Natur den Tagesablauf. Der Hahn weckte den Hof, Dämmerung begrüßte Mensch und Tier.Das Kunstlicht aber verlängerte den Tag und schenkte den Menschen Zeit für Freizeit, Weiterbildung oder Sport, was fortan oft in die Abendstunden verlegt wurde. Entsprechend wird heute später zu Bett gegangen. Und in der Folge beginnt für die meisten der Morgen eigentlich immer zu früh. Außerdem ruft heute nicht mehr auf dem Hof morgens die Kuh, die gemolken werden will, sondern bittet ein Chef pünktlich zur Konferenz, die man nicht zu oft verpassen sollte. In gewissen Regionen dieses Landes helfen auch Kirchenglocken beim Wecken, in anderen Kulturen tut es der Muezzin, der lautstark via Megafon zum Gebet ruft. Doch den meisten ist ein zuverlässiger Wecker trotzdem im Alltag unverzichtbar geworden.Ein Gerät zieht die Decke wegDie Geschichte des Geräts zeigt: Verschiedene Erfindungen versuchten dem heiklen Akt des Erwachens möglichst effizient, andere möglichst sanft zu begegnen. Neben banalen Typen, die einfach „nur“ klingeln, laut rattern, die Uhrzeit penetrant vorlesen oder Sturm läuten, gibt es auch komplexere Methoden, Schlafmützen zu wecken. Da gab es etwa die Mechanik eines Bernhard Birkenfeld aus Münster, die dem Träumenden automatisch zu gegebener Zeit die Bettdecke entzog: „Eine Weckvorrichtung, bei welcher der zu weckenden Person die Bettdecke durch ein mittels einer Weckuhr ausgelöstes Federwerk entzogen wird, das zusammen mit der Weckuhr an der Bettstelle befestigt sein kann“, wie der Erfinder 1909 in der Patentschrift festhielt.Der Radiowecker dagegen – ein Klassiker seiner Gattung ist etwa die Digimatic von Sony (tiny.cc/1eego) aus den 70er Jahren – mag heute fast schon altmodisch wirken. Doch seinetwegen haben Rundfunkstationen spezielle Morgenprogramme entwickelt und damit viele Moderatoren ihren Karriere-Durchbruch erreicht. Und nicht nur die berüchtigte Snoozetaste hat der Radiowecker in die Schlafzimmer gebracht, sondern auch den Sleeptimer, jene Taste, die beim Einschlafen assistieren soll, in dem sie das Gerät nach einer bestimmten Zeit automatisch abschaltet. Nicht wenigen erzählt dank dieser Taste seit den 90er Jahren Jürgen Domian mit seiner Radiosendung die Gutenachtgeschichten.In den 80er Jahren erfand die Firma Braun auch ein Modell, dessen Weckruf sich durch Rufen oder Winken deaktivieren lässt – ein Traum für jeden Langschläfer. „Clocky“ dagegen ist ihr Albtraum: Ein Wecker, der sich beim Klingeln vor den tapsenden Händen des im Schlaf Gestörten versteckt. Mittels zweier Gummiräder, auf denen er sich piepsend auf und davon macht, sodass man gezwungen ist, tatsächlich aufzustehen, um den Alarm zu beenden (tiny.cc/mn4r2).Simulierter TagesanbruchIn den vergangenen Jahren kamen zudem spezielle Lichtwecker auf den Markt, die auf die innere Uhr ihres Besitzers reagieren respektive sanft mittels Helligkeit wecken sollen. Der Hersteller verspricht ein schonenderes Aufwachen. Durch den simulierten Tagesanbruch sollen sich die Schlafhormone verbrauchen, während die Stresshormone zunehmen. Unterdessen gibt es, natürlich, auch Wecker-Apps für Smartphones: Da werden etwa mit einem „professionellen Algorithmus“ die persönlichen Schlafzyklen aufgezeichnet, und es wird zum perfekten Zeitpunkt geweckt.Lange in der Gerätegeschichte waren Wecker ein Privileg für Wohlsituierte, heute ist eher das Gegenteil der Fall. Eine Zeitlang auf den Wecker verzichten zu können (Stichwort: Sabbatical), ist zum Luxus geworden. Schuld an dieser Entwicklung hat nicht nur die veränderte Arbeitswelt, sondern auch die Firma Junghans. Der Uhrenhersteller begann Ende der 1870er Jahre im Schwarzwald nach amerikanischem Vorbild Wecker als Massenware zu produzieren und auf die deutschen Nachttische zu bringen.Bleibt die Frage, ob heute dank der tickenden Störenfriede weniger geschlafen wird als früher, als die Nacht unter Umständen schon um 18 Uhr begann. Die Schlafforschung hat herausgefunden, dass in Deutschland im Schnitt 6 Stunden und 59 Minuten geschlafen wird. Also rund ein Drittel der Zeit, die uns das Zifferblatt eines Weckers anbietet. Immerhin schenkte uns der vergangene Sonntag gerade eine zusätzliche Stunde, die wir erst zum 24. März wieder abgeben müssen. Eine einmalige Chance, wenigstens einige Tage lang vor dem Störenfried aufzuwachen. Bis sich die innere Uhr wieder jener auf dem Nachttisch angepasst hat.
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