Ob Günter Grass mit Tabus spielt, ist unwichtig. Aber er bedient mit seinem „Gedicht“ antisemitische Klischees und schürt negative Gefühle gegenüber Juden
Seit Tagen wird über ein „Gedicht“ debattiert, das – so sieht es zumindest Herta Müller – keinen einzigen literarischen Satz enthält. Die einen bezeichnen den Autor Günter Grass als „modernen Antisemiten“, die anderen bejubeln seinen Mut, ein vermeintliches Tabu gebrochen und gesagt zu haben, „was gesagt werden muss“.
Ist der Literaturnobelpreisträger also ein Antisemit? Wir wissen es nicht, niemand hat seine Weltanschauung geprüft. Es ist auch unerheblich. Zweifellos sind Grass’ Einlassungen jedoch eine Vorlage für jene, die antisemitische Klischees, Ressentiments und Vorurteile hegen. Er schürt negative Gefühle gegenüber Juden, und solche Ressentiments haben eine lange Tradition.
Der Beg
on.Der Begriff „Jude“ fällt im gesamten Gedicht nicht ein einziges Mal. Grass schreibt über Israel, das den Weltfrieden bedrohe. Er verkehrt dabei Ursache und Wirkung, wenn er den eigentlichen Aggressor, den iranischen Staatspräsidenten, verniedlichend als bloßen „Maulhelden“ bezeichnet. Ob der Schriftsteller nun bewusst oder unbewusst in Form einer „Umwegkommunikation“ (Bergmann/Erb) mit Israel auch „die Juden“ meint, bleibt dahingestellt. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern Europas steht Israel aber heute nicht selten stellvertretend für „die Juden“. Damit eröffnen sich Möglichkeiten, das anti-antisemitische Tabu im öffentlichen Diskurs zu durchbrechen.Antisemitismus ist eine negative Haltung gegenüber Juden, die sich bis zum Hass steigern kann; sie kann religiöse, soziale, politische, nationalistische, rassistische und antizionistische Hintergründe haben. Der Antijudaismus, die religiös begründete Judenfeindschaft, ist heute meist auf sektiererische religiöse Randgruppen beschränkt. Auch klassische rassistische Formen finden sich im Wesentlichen nur noch in einigen rechtsextremen Gruppierungen. Heute handelt es sich eher um einen kulturalistisch-rassistischen Antisemitismus, der kulturelle Unterschiede hervorhebt – diese Wendung macht ihn unverdächtig, und Ressentiments lassen sich vermeintlich offener äußern („Juden passen einfach nicht zu uns“).Der sekundäre Antisemitismus, der sich aus Schuld- und Schamgefühlen und einer Verdrängung der Verantwortung für den Genozid an den europäischen Juden speist, sowie der Antizionismus, verstanden als antisemitische Israelkritik, sind heute die beiden dominierenden Ausdrucksformen judenfeindlicher Haltungen. Sie richten sich nicht nur selten gegen Individuen, sondern sind geprägt von der Vorstellung eines „jüdischen Kollektivs“, das den Juden Macht in allen Bereichen zuschreibt. In der Regel bleiben solche judenfeindlichen Dispositionen latent, das heißt, sie werden allenfalls unterschwellig und in subtiler Weise nach außen getragen. Manifester Antisemitismus, also jene Formen, die in tätliche oder verbale Übergriffe auf Juden oder jüdische Institutionen münden, finden sich heute im rechtsextremen und islamistischen Spektrum.Ständige ErinnerungDer „sekundäre Antisemitismus“, also der Antisemitismus wegen Auschwitz, ist eng mit dem Holocaust und der Erinnerung daran verknüpft und gipfelt in einer Schuldprojektion auf „die Juden“. Juden erinnern die Deutschen angeblich ständig an die NS-Verbrechen. Diese Form des Antisemitismus wird in aktuellen Debatten auch auf Israel übertragen und ist inzwischen in vielen europäischen Ländern aktuell, etwa wenn ein jüdischer Opferstatus abgelehnt und daraus folgend das Existenzrecht des Staates Israel bestritten wird. Die Holocaust-Leugnung ist die extremste Form des sekundären Antisemitismus. Auch sie wird heute gegen Israel verwendet. Indem der Holocaust in Abrede gestellt oder als „Mythos“ bezeichnet wird, wird eine der zentralen Gründungsvoraussetzungen des Staates Israel konterkariert. Dieser sekundäre Antisemitismus, über den sich die internationale rechtsextreme Szene vernetzt, spielt auch eine zentrale Rolle in der Propaganda radikaler Islamisten.Die Verweigerung einer Auseinandersetzung mit dem Holocaust geht häufig einher mit der Unterstellung, Juden zögen Vorteile aus der Vergangenheit, weil sie angeblich Druck auf Regierungen – wie der USA oder Deutschlands – ausübten. Auch Günter Grass spielt in seinem „Gedicht“ mit solchen Vorstellungen, wenn er schreibt, die U-Boot-Lieferung der Bundesregierung sei „mit flinker Lippe als Wiedergutmachungen deklariert“ worden. Ferner hebt er darauf ab, dass seine Herkunft und der „nie zu tilgende Makel“, mit dem Deutschland behaftet sei, ihm bisher verboten hätten, zu sagen, „was gesagt werden muss“. Implizit unterstellt er hier ein Tabu, Israel zu kritisieren.Eine solche Meinung ist weitverbreitet, ist aber bar jeglicher Realität. Im Gegenteil, Kritik an der Politik der israelischen Regierung oder dem Vorgehen des israelischen Militärs in den Palästinensergebieten gehört zur Normalität in den deutschen Medien. Bisweilen hat man gar den Eindruck, Israel und der Konflikt im Nahen Osten seien der einzige Krisenherd in der Welt. Im Übrigen ist in Israel selbst Kritik nicht nur in der Presse, sondern auch in der Bevölkerung an der Tagesordnung.Die häufige Unterstellung, wir hätten es mit einem Tabu zu tun, in das uns eine vermeintlich jüdische Lobby treibe, gehört in den Kanon antisemitischer Muster, der sich jahrhundertealter Weltverschwörungstheorien bedient. Sie will uns glauben machen, es gebe ein „Weltjudentum“, das die Fäden in der Hand halte und nicht nur die Politik, sondern auch die Medien beherrsche.Der anti-antisemitische Diskurs in der Öffentlichkeit droht allmählich aufzuweichen. Dazu trägt die Präsenz des Nahostkonflikts in den Medien bei, aber auch linke Diskurse mit einer zum Teil unwidersprochen einseitig pro-palästinensischen Haltung. Diese schlägt sich in mancher Berichterstattung nieder, insbesondere aber in der Bildsprache einiger Illustrationen von ansonsten seriösen Artikeln. Insofern spiegelt sich in dem Grass-Gedicht das, was wir in den letzten Jahren – spätestens seit Beginn der zweiten Intifada im Herbst 2000 – beobachten können.Noch einmal: Es geht hier nicht um legitime Kritik an einer Regierung oder deren Politik, sondern um Grenzüberschreitungen hin zu antisemitischen Stereotypen, seien es auch nur Versatzstücke. Eine solche Grenze wird überschritten, wenn israelische Politik oder das Vorgehen der israelischen Streitkräfte mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung und dem Holocaust gleichgesetzt werden.Eine Umfrage von 2008 zeigt, dass mindestens 40 Prozent der Deutschen der Aussage ganz oder teilweise zustimmen, Israel mache dasselbe mit den Palästinensern wie die Nationalsozialisten einst mit den Juden, und damit einer Täter-Opfer-Umkehr das Wort reden. Noch höhere Werte ergeben sich bei der Aussage: „Israel führt einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser“ (2010: 57,3 Prozent). Die Grenzlinie zwischen legitimer Kritik und Antisemitismus/Antizionismus wird auch dann überschritten, wenn das Existenzrecht des Staates infrage gestellt oder gar negiert wird und Juden anderer Länder in einer Art Stellvertreterfunktion für diese Politik verantwortlich gemacht werden. Letzteres spiegelt sich in der Aussage „Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat“, der 2010 etwas über 38 Prozent der Deutschen ganz oder teilweise zustimmten. Auch wenn diese Werte seit 2004 zurückgegangen sind, so haben sie sich doch auf einem höheren Niveau im Vergleich zu den neunziger Jahren eingependelt. Nicht immer sind Aussagen und Meinungen, die in diese Richtung gehen, antisemitisch. Häufig bewegen sie sich in einer Grauzone, in der es abzuwägen gilt, wer was und zu welchem Zweck sagt.Unterschwellig und subtilGünter Grass spricht als Replik auf seine Kritiker davon, es sei eine gewisse „Gleichschaltung der Meinung“ zu beobachten. Damit lässt er nicht nur anklingen, es gebe eine geheime Macht (die Juden oder Israel?), die dies veranlasse. Er steht damit auch in einer langen Tradition derer, die schon in den siebziger Jahren während der kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten Begriffe aus der nationalsozialistischen Terminologie verwendeten, um Israel zu diskreditieren und zum alleinigen Aggressor zu stilisieren. Bereits damals kursierten Begriffe wie „Blitzkrieg“ oder „Vernichtungskrieg“, sie kamen meist aus dem linken politischen Spektrum und galten Israel, das als „faschistischer“ Staat bezeichnet wurde. Die abstruse Vorstellung, Israel wolle den Iran „auslöschen“ (Grass), tendiert genau in diese Richtung.Stehen antisemitische Vorurteile, Klischees und Ressentiments nicht in direktem Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust, werden diese also unterschwellig oder in subtileren Formen geäußert, werden sie heute häufig nicht als solche wahrgenommen, und jene, die sich ihrer bedienen, weisen jegliche Anlehnung an mögliche antisemitische Muster weit von sich. Ob aus Unwissenheit oder aus bewusst verweigerter Auseinandersetzung mit dem Phänomen –, über Generationen tradierte antijüdische Vorurteile schleichen sich auf diese Weise immer wieder in den öffentlichen Diskurs ein.