Diese Woche lässt unser Autor seine Weltsicht auf den Kopf stellen. Er denkt über die Evolution nach und zitiert unvermittelt "Tim und Struppi" und den Talmud
Warum habe ich es gelesen? Mein Schwiegervater und seine Frau reden seit Wochen von nichts anderem als von diesem Buch. Ich war 10 Tagen in den Ferien mit den beiden, ich wollte mitreden.
Worum geht es: Bruce Lipton, ein streitbarer Biologe, und sein Sidekick, der Spiri-Clown Steve Bhaerman, haben sich aufgemacht, nichts Geringeres zu versuchen, als unsere gesamte Weltsicht auf den Kopf zu stellen. Ihre zentrale These lautet ungefähr so: vergessen Sie alles, was Sie in der Schule gelernt haben. Das passte mir ganz gut, zumal ich mich sowieso an die Hälfte von dem, was man mich in der Schu
gesamte Weltsicht auf den Kopf zu stellen. Ihre zentrale These lautet ungefähr so: vergessen Sie alles, was Sie in der Schule gelernt haben. Das passte mir ganz gut, zumal ich mich sowieso an die Hälfte von dem, was man mich in der Schule glauben lassen wollte, nicht mehr erinnern kann.Konkret dekonstruieren die beiden eine Reihe bislang als unumstößlich geltende Theorien: die newtonsche Physik (Ursache-Wirkung) etwa und, besonders gründlich, die darwinistische Evolutionstheorie. Diese Felder, so Lipton, kann man zusammenfassen unter dem Begriff „wissenschaftlicher Materialismus“, also eine Art Primat der Materie über den Geist. Oder auch: einem Primat der Wissenschaft über die Religion (auch das passte mir ganz gut, da ich die Wissenschaftsgläubigkeit unserer Zeit für sektiererisch halte).Lipton findet den wissenschaftlichen Materialismus nicht schlecht. Er ist kein Spinner, er glaubt nicht, dass Newton mit seiner Schwerkraft Unrecht hatte. Aber ihm sind einige Ungereimtheiten aufgefallen. Ihm scheint die Ursache-Wirkung-Logik verkürzt. Uns so ergänzt er Newton mit Gedanken aus der Quantenphysik. Quantenphysik, in aller Kürze geht so: alles im Quantenuniversum – sei es physisch oder nichtphysisch wie Gedanken – ist in eine Art Energiematrix eingewoben, die das Feld ist. „Das Feld ist die alleinige Kraft, die die Materie bestimmt“ (Albert Einstein).Ein Jahrhundert, nachdem Albert Einstein seine Masse-Energie-Formel–Gleichung präsentierte und deutlich machte, wie eng Materie und Energie miteinander verwoben sind, klammern sich viele Menschen immer noch hartnäckig an die Illusion einer rein materiellen Wirklichkeit. Warum eigentlich?, fragt Lipton nicht zu unrecht.Die Evolutionstheorie wiederum kriegt es bei Lipton mit der Epigenetik zu tun. Die Epigenetik beschreibt, wie Genaktivität letztlich durch Informationen von außen beeinflusst werden, statt eine interne Angelegenheit der DNA zu sein. HUNDERTAUSEND HEULENDE HÖLLENHUNDE! KRMKRPXZKRMTFZ! Der alte Häretiker Lipton wagt sich an das Allerheiligste. Denn wenn man seinen Gedanken zu Ende denkt, und das macht Lipton nur sehr vorsichtig (Angst vor der eigenen Courage?), dann ist man bei einem der lächerlichsten Figuren der Biologiegeschichte: Jean-Baptiste de Lamarck. Der Typ, der sagte, die Giraffen haben so lange Hälse, weil sie sich nach Laub strecken mussten und diesen Vorteil an ihre Nachkommen vererbten! Ich weiß noch, wie wir mit unserem Biologielehrer über so viel Dummheit herzlich lachten.Und jetzt plötzlich kommt Lipton und schreibt: Gene lassen sich verändern. Während unseres Lebens! Daher der Titel: Spontane Evolution. Wir sind nicht abhängig von irgendwelchen „selbstsüchtigen Genen“ (Richard Dawkins). Wir sind die Evolution. Die Beweise für diese Theorie meint Lipton überall zu sehen: in der Medizin (Krebskranke – das Krebsgen! –, die plötzlich wieder gesund werden; der Placebo-Effekt), in den Neurowissenschaften (Hirnplastizität), von der Soziologie ganz zu schweigen (Biologie ist sozial konstruiert).Und das ist nur ein kleiner Teil des Buches!Gegen Ende geht es darum, was man nun mit diesem Wissen anfangen soll. Die Botschaft ist in seiner Einfachheit bestechend: wir sollten ein bisschen darauf achten, wie wir leben, denn alles hängt miteinander zusammen. Das lässt sich vielleicht am besten in dem schönen Talmud-Zitat zusammenfassen: Achte auf deine Gedanken, sie werden deine Worte, achte auf deine Worte, sie werden deine Taten, achte auf deine Taten, sie werden deine Gewohnheiten, achte auf deine Gewohnheiten, sie werden dein Charakter, achte auf deinen Charakter, er wird dein Schicksal.Wie liest es sich?Wie alle amerikanischen Akademiker hat auch Litpon einen flüssigen Stil voller Anekdoten, Querverweisen, Humor und cleveren Zwischentiteln („Was wäre wenn Jesus und Einstein Recht hätten?“). Sein Co-Autor Steve Bhaermann leitet jedes Kapitel mit mehr oder weniger smarten Sprüchen ein (ein guter Spruch, wo es darum geht, dass Dinge sich verändern können, auch wenn die Erfahrung anderes sagt, geht so: „Stick to your story and your stuck with it“).Zwischendurch fallen die beiden leider in die welterklärende Psychospreche der Esoteriker (“feinstofflich“, „göttliche Kraft“), die fast alles wieder kaputt macht. Denn grade das esoterische Vokabular der großen Sinnhaftigkeit, diese unterschwelligen Heilsversprechen, machen den genauen Blick, den Lipton uns mit seinen Fragen eigentlich anbietet, wieder zunichte. Hier verschmilzt alles zu einem sehnsüchtigen Einheitsgebrabbel (die Welt ist eins). Aber wenn man Lipton weiterdenkt, wird die Welt nicht einfach besser, sie wird erst recht kompliziert. Denn wenn wir nicht determiniert sind, dann bestünden gesellschaftliche Ungerechtigkeit ja trotzdem weiter. Sie wäre aber sehr viel schwieriger zu rechtfertigen. Dann müssten wir uns erst richtig anstrengen, wenn wir weiter zusammenleben wollen.Was bleibt?Eine große Verwirrung. Ich bin kein Esoteriker. Habe von Gott lange nichts gehört. Und finde auch sonst Menschen, die mehr Antworten als Fragen haben, lästig. Ich habe hier nur Auszüge aus dem Buch wiedergegeben, Lipton hat zu allem und jedem was zu sagen. Und was er da sagt, ist nicht immer überzeugend, oft sogar hanebüchen, aber zwingt einen immer zum Nachdenken. Und dafür hat er verdammt noch mal Respekt verdient. Ich bin skeptisch. Aber falls es stimmt, was er da schreibt, falls die Welt wirklich anders tickt, als uns die Aufklärung glauben ließ, dann werde ich nicht derjenige sein, der die Revolution anführt. Aber ich werde in der vierten oder fünften Reihe stehen.Fazit: Lesenswert.Das beste Zitat:Gespräch eines Enkels mit seinem Großvater: „In mir gibt es zwei Wölfe, die einander bekämpfen“, erklärt der Großvater. „Der eine ist der Wolf der Liebe und des Friedens, und der andere ist der Wolf des Ärgers, der Wut und des Kriegs“.„Und welcher von den beiden gewinnt?“, fragt das Kind.„Der, den ich füttere“, erwidert der Alte.Klingt nach ältestem New-Age-Quatsch? Stimmt. Aber denken Sie mal drüber nach.Wer sollte es lesen?Ulrich Kühne, der Wissenschaftsredakteur des Freitag. Wüsste gern, was ein Skeptiker darüber denkt.Was lese ich als nächstes?Das neue Buch der verrückten Experimente von Reto U. Schneider.