Die Wohnungsgenossenschaft Treptow-Süd liegt am Adlergestell, einer vierspurigen Stadtstraße, die von Berlin-Treptow nach Adlershof führt. Links geht’s ins Grüne. Es gibt eine Schrebergartenkolonie mit Wegen, die nach Blumen oder Obst benannt sind, und es gibt ein paar wild umrankte alte Häuser aus rotem Stein, von nahezu lieblicher Baufälligkeit. Volker Tröster wohnt dazwischen: Dritter Stock in einem Plattenbau Typ Q3A, zwei Zimmer, hellbeige Auslegeware. Er öffnet in Pantoffeln, sieht ein bisschen müde aus, aber das glatte Gesicht ist braungebrannt von den vergangenen Monaten. Tröster ist 52 Jahre alt.
Der Besuch darf die Straßenschuhe anbehalten. „Mein Arbeitszimmer“, sagt Tröster und bittet in einen kleinen R
kleinen Raum mit Esszimmergruppe und Schrankvitrine. Daneben ein hohes Regal mit schmalen Holzschüben. Darüber eine Ablage mit weiteren schmalen Holzschüben. In der Ecke steht ein alter Röhrenmonitor, in dem sich ein Bildschirmschoner aus fernen Zeiten dreht. Es ist sehr still. Auf der Tischdecke zwei Leisten: Schmetterlinge, die Körper auf Stecknadeln gespießt, die Flügel sind glatt daneben auf das Holz gespannt. Tröster schiebt die Leisten erstmal weg.Er ist ja kein Wissenschaftler im eigentlichen Sinn. Er hat nicht studiert, er trägt keinen Titel, und er hält keine Vorträge auf großen Forscher-Kongressen, auch wenn er dort sicher etwas beizutragen hätte, aber eigentlich interessiert ihn so etwas nicht. Er arbeitet ehrenamtlich für den Naturschutzbund, die Fachgruppe Entomologie bestreitet er so gut wie allein. Seinen Lebensunterhalt verdient er im Schichtdienst, als Industriemechaniker. Nach der Wende musste er von Autos umschulen – die Autohäuser aus dem Westen hatten keine Verwendung für ihn. Jetzt prüft er Flugzeugtriebwerke. Mit seiner besonderen Beziehung zu den Schmetterlingen habe das aber nichts zu tun, sagt er. Auch nicht mit einem romantischen Frühling mit Mädchen und Zitronenfalter auf der Wiese.Zitronenfalter sind die ersten Schmetterlinge des Jahres, was im Wesentlichen daran liegt, dass sie die letzten sind – sie können mehr als ein Jahr alt werden und überwintern in Kellern oder Tierbauten, bis es warm wird, was sie manchmal schon im Januar hinaustreibt. Ihre ständige Präsenz hat auch sprachliche Spuren hinterlassen: Das englische Wort für Schmetterling soll von butter-coloured fly stammen. Die Farbe gelb ist auch in der Verwandtschaft sehr verbreitet, aber für die Gelblinge selbst eher uninteressant: Manche Arten erkennen einander an geheimen Mustern, die UV-Licht reflektieren und dem Menschenauge verborgen bleiben.Wie kommt einer wie er also auf Schmetterlinge? Hat sich so ergeben – und hätte sich auch anders ergeben können. Dann wäre Tröster jetzt ein Experte für Botanik oder würde mit einem Feldstecher bewaffnet durch Vogelschutzgebiete stapfen – für die Natur hat er sich jedenfalls „immer schon interessiert“. Aber als er acht war, haben sie in Wolgast eben Kartoffeln „gestöpselt“ – aufgesammelt, was von den Wagen runterfiel. Zwischen den Knollen fand Tröster dann so ein komisches Ding, fingerlang, sonderbar geformt und rotbraun glänzend wie eine Kastanie.„Was is‘n ditte?“, fragte sich Tröster und packte das Ding mal ein. Ein alter Präparator, der „bis zum Wildschwein“ alles machte, meistens aber Schmetterlinge präparierte, und der gern mit jungen Leuten durch die Gegend zog und ihnen allerlei Kraut am Wegesrand oder Käfer zeigte, erklärte ihm das Gebilde aus den Kartoffeln: Es war die Puppe eines Totenkopfspinners, eines exotischen Nachtfalters, der eigentlich in Afrika lebt. In Afrika! Obwohl sie sich im kalten Europa nicht fortpflanzen können, fliegen Totenköpfe Jahr für Jahr Richtung Norden, manche schaffen es bis zum Polarkreis. Sie sind nicht die einzigen Wanderfalter, aber besonders zäh. Tröster zieht einen der Kästen aus dem schmalen Schrank. Er hat die Puppe damals auf dem Balkon untergebracht, bis der fertige Schmetterling schlüpfte.Totenkopfschwärmer sind riesig. Mit aufgespannten Flügeln mehr als handbreit. Sie haben einen dicken, haarigen Körper, dunkelgrau mit gelben Mustern auf Flügeln und Rumpf. Wo der Dilettant den Kopf vermutet, auf dem Rücken also, leuchtet ein gelbes Mal, das wie ein Schädel aussieht. Sie sind Räuber. In Thomas Harris’ Schweigen der Lämmer versteckt der Killer eine Puppe des Nachtfalters im Hals seiner Opfer. Der lateinische Name Acherontia antropos stammt aus der Mythologie – Acheron ist ein Fluss der Unterwelt, Antropia ist eine Schicksalsgöttin: Als Tochter der Nacht entscheidet sie über den Tod.Was findet einer wie Tröster so umwerfend an Schmetterlingen? Er kann es nicht recht sagen. Die Schönheit ist es jedenfalls nicht. „Tagfalter“, sagt er. „Das ist das, woran die Leute denken, wenn sie an Schmetterlinge denken, aber die machen gerade mal zehn Prozent aller Arten aus.“ Die anderen neunzig Prozent sind Wesen der Dunkelheit, Nachtfalter, wie sein erster Fund damals, nur meist viel kleiner und auf den ersten Blick eher unscheinbar. Um nicht zu sagen hässlich. Aber das kann ein Freund natürlich nicht so sehen. „Irgendwie – naja, faszinierend“ finde er die flatterhaften Wesen. „Was soll ich sonst noch sagen?“ Wer sich mit Schmetterlingen so gut auskennt wie Tröster, darf kein Fachidiot sein. Er kennt auch unzählige Pflanzen. Das muss er, um das Futter für die Raupen zu finden, denn er hat oft welche zu Hause auf dem Balkon. Viele Falter sind wählerisch, fressen nur eine ganz bestimmte Art Grünzeug. „Die sind monophag“, erklärt Tröster.Der Bläuling ist ein kleiner Tagfalter wie aus dem Schmetterlingsbilderbuch – zart, mit wunderschönen Mustern, und nicht bloß in blau, sondern in allen Farben von blassgrün bis feuerrot. Es gibt mehr als 6.000 Arten, und zu fast jeder gehört eine ganz spezielle Pflanze, von der sich die grünen Räupchen ernähren. Verschwindet die Pflanze, verhungert der Schmetterling. Manche Bläulinge sind noch dazu von Dritten abhängig, lassen zum Beispiel ihre Eier von Ameisen transportieren. Ohne die Ameisen geht dann auch nichts mehr. Spezialisierung kann gefährlich sein.Es geht den Schmetterlingen nicht so gut, sagt Tröster. Man höre ja viel übers Artensterben, Biodiversität und so, aber kaum jemandem sei klar, dass das ganz massiv auch die Schmetterlinge betrifft, und dass das ganze Ausmaß der Misere noch überhaupt nicht bekannt ist. „Weiße Flecken“, sagt er. Die Landkarte sei voll davon, lauter Gebiete, über deren Schmetterlingsbestände man nichts Genaues wisse. Genau hier sieht Tröster seine Mission: Die weißen Flecken müssen weg. Dafür ist er auch in diesem Jahr fast jedes Wochenende rausgefahren, nach Löcknitztal bei Erkner oder Herzfelde bei Templin, um nachts die Schmetterlinge anzulocken, mit Zelt und Schwarzlicht. Tausende Falter kommen dann und setzen sich auf die Plane, da kann er sie in Ruhe betrachten und zählen. Manchmal fängt er auch welche, um sie zu präparieren.Er macht das nicht aus Sammlerwut, darauf legt er großen Wert. Er zieht wieder einen Kasten aus dem schmalen Regal, es wird langsam unordentlich. Schmetterlinge überall, in manchen Kästen sehen sie einander völlig ähnlich, vor allem die Nachtfalter mit ihren braunen, grauen, schwarzweißen Mustern, mit denen sie meist Baumrinden imitieren. Aber das täuscht natürlich. „Die Unterschiede sind riesig“, sagt Tröster. Und es gibt viele, die hat selbst er noch nie gesehen, obwohl sie fast übermäßig häufig sind und alle drüber reden.Die Nonne heißt eigentlich Nonnenspinner, ein kleiner Nachtfalter mit schwarzweißem, manchmal auch schwarzbraunem Muster, das ins komplett Schwarze gehen kann. Die Nonne ist von so frommer Farbe, wie sie gefräßig ist. Eine der haarigen Raupen raspelt bis zu ihrer Verpuppung allein etwa 2000 Fichten- nadeln vom Ast, und nie kommt sie allein. Alle paar Jahre vermehrt sich die Nonne besonders erfolgreich und bereitet den Förstern Kummer – zumal sie nicht nur Fichten niedermetzelt, sondern bei Bedarf auch andere Nadelbäume.Nach der Wende war Tröster mal in Afrika, dort gibt es viele verrückte Falter, viel größer noch als hier, einen hat er sich mitgebracht, er holt ihn und legt ihn zu den anderen auf den Esstisch. Sein Interesse gilt aber mehr den heimischen Arten und – er wird nicht müde, das zu betonen – den weißen Flecken. Was er sich davon verspricht, wenn die weißen Flecken erschlossen sind? „Naja“, meint er. Wenn man wisse, welche Arten wo seien, könne man sie doch besser schützen. In Werneuchen habe man vor einiger Zeit den Bau einer Umgehungsstraße verhindert, weil im Planungsgebiet ein seltener Bläuling lebt.Ist das plausibel, wegen ein paar Schmetterlingen eine Straße zu verlegen? „Das ist doch einfach wichtig, dass man die Natur schützt“, sagt Tröster. Er zieht jetzt die Leisten ran, um zu zeigen, wie er die Tiere präpariert. Man muss sehr vorsichtig sein, weil die Farbpigmente nicht fest auf den Flügeln haften. Deshalb darf man lebendige Schmetterlinge tatsächlich nicht berühren. Beim Präparieren benutzt er Folie, und so aus der Nähe betrachtet sehen die Falter auf einmal sehr verschieden aus. Es ist auch ein Seidenspinner dabei, und Tröster springt wieder auf, um ovale weiße Kokons auf den Tisch zu legen.Der Seidenspinner hat Kaiserreiche eingekleidet und weite Wege zurückgelegt: Angeblich wurden seine Eier dann vor 1500 Jahren im Haarkranz eines Mönchs von China nach Europa geschmuggelt. Der gezüchtete Nachtfalter sieht aus wie in Mehl gewälzt, er schafft es aber selten übers Puppenstadium hinaus. Sein Verhängnis ist, dass die Raupen ihren Kokon aus einem einzigen, 900 Meter langen Seidenfaden spinnen. Nur ganze Fäden liefern hochwertige, glatte Seide. Weil der Faden beim Schlüpfen aber kaputt geht, übergießt man die noch verpuppte Raupe mit kochendem Wasser. Dann stirbt die Raupe und der Seidenfaden kann abgewickelt werden.Wenn sich die Schmetterlinge jetzt in ihre Winterquartiere zurückziehen, wird Tröster nicht mehr so viel draußen sein. Stattdessen wird er die gesammelten Daten auswerten. Seine zwei Söhne haben sich auch mal eine Zeit lang für die Schmetterlinge interessiert, der eine hat sogar Biologie auf Lehramt studiert, aber inzwischen haben sie andere Hobbys. Und deshalb kümmert sich Tröster wieder allein um die weißen Flecken.