Aus spontan kundgetaner Empörung ist in Spanien eine große Protestbewegung entstanden – und sie geht einfach nicht nach Hause. Unter Demonstranten in Barcelona
Barcelona, im Mai. Die Acampadas, die mittlerweile spanienweit bekannten innerstädtischen Zeltlager, gehen weiter – auch nach den Regionalwahlen am Sonntag.
Die Entscheidung, sie zum Protest etwa gegen Einschnitte in Sozial-, Gesundheits- und Bildungsystem, die hohe Jugendarbeitslosigkeit, Korruption und die Macht der Banken auf unbestimmte Zeit fortzusetzen, stand bereits fest, bevor die ersten Wahlergebnisse bekannt wurden.
Die konservative Partido Popular überrollte die regierenden Sozialisten regelrecht, doch das ist für alle Beteiligten auf der Plaça Catalunya in Barcelona nebensächlich: "Auch wenn die Partei gewonnen hat, repräsentiert sie uns nicht", sagt die 23-jährige Sara Díez. Sara und María del Mar Pons Prat, ebenfalls 23, studie
Prat, ebenfalls 23, studieren und arbeiten und sind somit das Gegenteil dessen, was in Spanien als Generation Ni-Ni, als Generation Weder-Noch bekannt ist – weder arbeiten noch studieren sie.Was als Protestaktion ohne feste Formen angefangen hatte, hat sich binnen weniger Tage zu einer international vernetzten und von unten nach oben organisierten Bewegung entwickelt, die nun doch gar nicht daran denkt, wieder nach Hause zu gehen. "Wir sind hier gerade dabei, etwas ganz Neues aufzubauen", sagen Sara und Maria. "Wenn wir das Ganze mit den Wahlen beendet hätten, wäre alles umsonst gewesen. In einer Woche kann man keine grundlegenden Veränderungen erreichen."Sie nennen sich BildungsproletariatDie beiden engagieren sich in der Bildungskommission der Bewegung. In den zahlreichen Kommissionen, die mittlerweile gegründet wurden, engagieren sich Richter, Wirtschaftswissenschaflter, Journalisten, Lehrer, Dozenten, Ärzte und, vor allem, viele Studenten. Sie bezeichnen sich selbst als Bildungsproletariat. Auch Polizisten haben sich der Bewegung angeschlossen. Sie sagen, sie wollen sich im Falle eines Räumungsbefehls ihren Vorgesetzten widersetzen – was freilich nur nach einem offiziellen Beschluss der Polizeigewerkschaft möglich wäre. Dennoch: Die Geste ist unmissverständlich.Die Vorschläge aller Kommissionen werden einmal täglich von der abendlichen Generalversammlung verabschiedet, der im Schnitt etwa 7.000 Personen beiwohnen. Es handelt sich bei den Vorschlägen nicht um haltlose antikapitalistische und populistische Propaganda, wie vor allem konservative Parteien glauben. Jede einzelne Forderung beinhaltet einen Fahrplan, der beschreibt, wie man sie umzusetzen versucht.Vom Team Internationales werden die Manifeste in alle erdenklichen Sprachen der Welt übertragen, sogar eine Gehörlose wird beim Übersetzen in Gebärdensprache gefilmt. Alle Dokumente und Aufnahmen werden sofort online gestellt.Die Infrastruktur-Kommission sorgt dafür, dass es an nichts fehlt. Über die sozialen Netzwerke bittet sie um Wasser, Essen, Schnüre, Bretter oder Stühle. Die ausgebildeten Köche der Essenskommissionen bereiten mit den Spenden der Bürger kostenloses Essen für alle zu, die Kochplatten werden mit Solarenergie betrieben. Für die Studenten beginnt in einer Woche die Examensphase, für sie hat man eine Studienecke mit improvisierter Bibliothek eingerichtet, Eltern können ihre Kinder in der Spielecke abgeben, während sie sich den Vorgängen auf dem Platz widmen.Für größere Anschaffungen – etwa für Dixieklos, Lautsprecher, Mikrofone – wird auf Geldspenden zurückgegriffen, die aus der Bevölkerung kommen. Neue Geldspenden werden jedoch nicht mehr angenommen, da der Bedarf für die nächsten Wochen bereits vollkommen gedeckt sei. Sollte etwas vom durch die Spenden angehäuften Kapital nach Ende der Proteste übrigbleiben, wolle man es an gemeinnützige Organisationen weiterleiten, heißt es.Utopie und großer ErnstAus spontaner Empörung über verschiedenste Dinge ist so ein organisiertes Netzwerk geworden. Es herrscht eine euphorische Stimmung auf dem gesamten Platz, und auch wenn hier oft von Utopie die Rede ist, dann schwingt doch großer Ernst mit.Mittlerweile versucht sich die Bewegung zu dezentralisieren, jeden Abend werden kleinere Versammlungen in allen Stadtteilen abgehalten. Auch die Caceroladas, die Topfschlagaktionen zur Abendessenszeit, finden nicht mehr nur auf dem zentralen Platz statt. Pünktlich um 21 Uhr stehen Leute mit Töpfen und Pfannen auf ihren Balkonen, auf den Straßen setzt ein Hupkonzert ein.Die nahe Zukunft ist ebenfalls schon geplant. Am 15. Juni, dem Tag, an dem das katalanische Parlament aller Voraussicht nach die Sparpakete im Gesundheits- und Bildungswesen beschließen wird, sind Massendemonstrationen im ganzen Land geplant – genau einen Monat nach den ersten Protestversammlungen in Madrid. In Barcelona sollen die Demonstrationen dann in einer Massenkundgebung vor dem katalanischen Parlament enden. Und bis zu diesem Tag, das scheint schon klar, wird es niemand schaffen, die Proteste gewaltfrei aufzulösen. Nur am kommenden Samstag, dem Tag des Champions-League-Finals zwischen dem FC Barcelona und Manchester United, sind die Demonstranten bereit, für wenige Stunden aus dem Zentrum auf die Plätze ihrer Viertel umziehen – aus Sicherheitsgründen.Und die Politik? Die Aufmacher in Zeitungen und Nachrichtensendungen sind am Tag nach der Wahl den Wahlergebnissen gewidmet, die Proteste der Jungen sind – zumindest vorübergehend – nach hinten gerückt. Die Sozialisten schieben die dramatischen Verluste auf die Wirtschaftskrise, nicht auf ihre Politik, und die Opposition fordert lautstark nationale Neuwahlen.Kein einziger gewählter Volksvertreter aber hat sich bislang auf der Plaça Catalunya blicken lassen – auch in Madrid nicht. "Besser so", sagt Sara Diez. "Die kämen eh nur des Fotos wegen, die sollen lieber unser Blog lesen." Dass mehr als vier Prozent der bei der Regionalwahl abgegebenen Stimmzettel weiß blieben oder ungültig gemacht wurden, ist eine der Botschaften, die von der Bewegung ausgesandt werden. María und Sara haben sich die Ergebnisse der Regionalwahl auch nur oberflächlich angeschaut. "Ich bin glücklich", sagt Maria. "Die Leute denken endlich."