Nun kommen wir zum gefährlichsten Teil des Hauses – ja, einem der unfallträchtigsten Orte, die es überhaupt gibt: zur Treppe. Niemand weiß genau, wie gefährlich sie ist, weil es an Statistiken merkwürdigerweise hapert. Die meisten Länder führen welche über Todes- und Verletzungsfälle durch Stürze, aber nicht darüber, was den Sturz verursacht hat. In den Vereinigten Staaten ist zum Beispiel bekannt, dass etwa 12.000 Menschen im Jahr zu Boden gehen und nie wieder aufstehen, doch ob sie von einem Baum, einem Dach od
Kultur : Holterdipolter!
In seiner "Kurzen Geschichte der alltäglichen Dinge" macht sich Bill Bryson auf eine Entdeckungstour durchs eigene Haus. Der "Freitag" präsentiert eine exklusive Leseprobe
Von
Bill Bryson
oder der Gartenveranda gefallen sind, weiß man nicht.In Großbritannien wurden bis 2002 ziemlich penibel die Zahlen über Treppenstürze festgehalten, doch dann befand das Ministerium für Handel und Industrie, solche Dinge aufzuzeichnen sei ein Luxus, den es sich nicht mehr leisten könne – was eigentlich Sparsamkeit am falschen Platz ist, wenn man bedenkt, wie viel solche Verletzungen die Gesellschaft kosten. Die letzten Zahlen zeigen, dass sich in dem Jahr sage und schreibe 306.166 Briten bei Treppenstürzen so ernste Blessuren zuzogen, dass sie sich ärztlich versorgen lassen mussten. Und das ist ja keine Bagatelle.John A. Templer vom Massachusetts Institute of Technology, Verfasser der ultimativen (und, zugegeben, fast der einzigen) wissenschaftlichen Untersuchung zu diesem Thema, entwirft sogar ein noch drastischeres Bild. In seiner Schrift Die Treppe. Studien zu Gefahren, Stürzen und verbesserter Sicherheit vertritt er die Meinung, dass ohnehin alle Zahlen zu Sturzverletzungen viel zu niedrig angesetzt sind. Denn selbst nach vorsichtigsten Schätzungen ist die Treppe die zweithäufigste Ursache von Unfalltoden, weit hinter Autounfällen, doch weit vor Ertrinken, Verbrennen und ähnlich argen Missgeschicken. Obendrein kommen Treppenstürze die Volkswirtschaft teuer zu stehen; man muss sich nur die anfallenden Arzt- und Krankenhauskosten vergegenwärtigen sowie die Kosten, die durch den Arbeitsausfall entstehen. In Anbetracht dessen ist es schon merkwürdig, dass man dem Treppensturz nicht mehr Aufmerksamkeit zollt. Bei Bränden, Brandschutzbestimmungen und Feuerversicherungen werden reichlich Geld und Arbeitszeit auf vorbeugende Maßnahmen oder Ursachenforschung verwendet, doch bei Stürzen und ihrer Verhütung hält man sich zurück.Irgendwann stolpert jeder mal auf einer Treppe. Man hat errechnet, dass der Mensch beim Treppengehen wahrscheinlich alle 2.222 Mal eine Stufe verpasst, alle 63.000 Mal einen kleineren und alle 734.000 Mal einen schmerzhafteren Unfall hat. Alle 3.616.667 Mal muss er zur Behandlung ins Krankenhaus.Vierundachtzig Prozent der Menschen, die nach Treppenstürzen im eigenen Haus sterben, sind fünfundsechzig und älter. Der Grund liegt weniger darin, dass die Senioren achtlos eine Treppe hinuntergehen, als vielmehr darin, dass sie nicht mehr so leicht aufstehen können. Kinder sterben Gott sei Dank sehr selten nach Treppenstürzen, aber Haushalte mit kleinen Kindern haben bei Weitem die höchste Rate an Verletzungen, teilweise weil die Treppe häufig benutzt wird und teilweise wegen der verblüffenden Dinge, die Kinder auf der Treppe liegen lassen. Unverheiratete Menschen fallen eher als verheiratete, jung verheiratete fallen mehr als beide, und Leute, die fit sind, fallen öfter als Leute, die nicht fit sind, hauptsächlich, weil sie viel mehr springen und weniger vorsichtig sind und nicht immer Päuschen machen müssen wie die Pummel und Gebrechlichen.Der beste Indikator dafür, welches Risiko man persönlich hat, ist die Häufigkeit der Stürze, die einem bisher passiert sind. Anfälligkeit für Treppensturzverletzungen ist unter Ärzten ein eher kontrovers diskutiertes Thema, aber es scheint doch etwas dran zu sein. Etwa vier von zehn Menschen widerfährt ein solches Malheur nicht nur einmal.Die Leute fallen verschieden in verschiedenen Ländern. Zum Beispiel verletzt sich ein Japaner weit eher bei einem Treppensturz im Büro, in einem Kaufhaus oder auf einem Bahnhof als jemand in den Vereinigten Staaten. Und zwar nicht deshalb, weil die Japaner leichtsinnigere Treppengeher sind, sondern, weil US-Amerikaner in öffentlichen Räumen nicht oft Treppen benutzen. Stets auf Sicherheit und Bequemlichkeit bedacht, hüpfen sie gleich in Aufzüge oder stellen sich auf Rolltreppen. Verletzungen durch Treppenstürze ziehen sie sich in ihrer überwiegenden Mehrheit zu Hause zu – fast der einzige Ort, an dem sie wirklich regelmäßig Treppen benutzen. Das ist auch der Grund, warum Frauen häufiger Treppen herunterfallen als Männer: Sie benutzen sie mehr, insbesondere zu Hause, wo, wie gesagt, die meisten Stürze passieren.Wenn wir auf einer Treppe fallen, geben wir uns meist selbst die Schuld und meinen, wir seien unvorsichtig oder unaufmerksam gewesen. Dabei beeinflusst die Konstruktion der Treppe die Wahrscheinlichkeit, mit der wir fallen, und die Intensität des Schmerzes. Schlechte Beleuchtung, kein Geländer, verwirrende Muster auf den Stufen, zu hoher oder zu niedriger Abstand zwischen den Stufen, ungewöhnlich breite oder schmale Stufen oder Absätze, die den Rhythmus des Hinauf- oder Hinabgehens unterbrechen, sind die Hauptkonstruktionsfehler, die zu Unfällen führen.Laut Templer ist bei der Sicherheit von Treppen zweierlei zu beachten, nämlich erstens, „die Bedingungen zu vermeiden, die zu Unfällen führen“, und zweitens, „die Treppen so zu konstruieren, dass die Verletzungen gering bleiben, wenn ein Unfall passiert“. Er erzählt, dass an einem Bahnhof in New York (an welchem, sagt er wohlweislich nicht) die Stufenränder mit einem rutschfesten Anstrich versehen wurden, doch wegen des Musters die Kanten schwer zu erkennen waren. Binnen sechs Wochen fielen mehr als vierzehnhundert Leute die Treppe hinunter. Dann beseitigte man das Problem.Höhe, Breite, SteigungBei einer Treppe spielen drei Faktoren eine Rolle: Stufenhöhe, Auftrittsbreite und Steigung. Was den Steigungsgrad betrifft, sind die Menschen sehr empfindlich. Beim Hinaufgehen ist alles über 45 Grad unangenehm anstrengend und alles mit weniger als 27 Grad schneckenhaft langsam. Treppen hochzusteigen, die eine geringe Steigung haben, ist überraschend mühsam, der Bereich, in dem wir eine Treppe locker-flockig bewältigen können, ist klein. Ein unausweichliches Problem ist die Tatsache, dass Menschen sicher und ungefährdet in beide Richtungen gehen wollen, die Bewegungsabläufe aber in jeder Richtung verschiedene Haltungen erfordern. Geht man eine Treppe hoch, beugt man sich vor, geht man hinunter, verlagert man seinen Schwerpunkt nach hinten, als bremse man. Treppen, die man sicher und bequem hinaufsteigt, sind beim Hinuntergehen unter Umständen nicht so gut und umgekehrt. Wie weit die Stufenkante aus der Stufe vorragt, kann die Unfallwahrscheinlichkeit ebenfalls wesentlich beeinflussen. In einer idealen Welt würden die Treppen immer leicht ihre Form verändern, je nachdem, ob man hinauf- oder hinuntergeht. In unserer nicht idealen Welt ist jede Treppe ein Kompromiss.Schauen wir uns einen Sturz in Zeitlupe an. Eine Treppe hinunterzugehen ist in gewissem Sinne ein kontrollierter Sturz. Man bewegt den Körper in einer Weise vorwärts und abwärts, die eindeutig gefährlich wäre, wenn man die Situation nicht beherrschte. Für das Gehirn besteht das Problem darin, den Moment zu erkennen, in dem ein Abstieg nicht mehr geordnet erfolgt, sondern verzweifelt unkoordiniert wird. Das menschliche Gehirn reagiert ja sehr schnell auf Gefahr und Unordnung, aber den Bruchteil einer Sekunde braucht es doch – 190 Millisekunden, um genau zu sein –, bis die Reflexe einsetzen und der Verstand kapiert hat, dass etwas schiefläuft und er alles klar zum Gefecht machen muss, weil eine schwierige Landung ansteht. Während dieser ungeheuer kurzen Phase bewegt sich der Körper im Durchschnitt noch etwa 20 Zentimeter abwärts – da ist eine elegante Landung meist nicht mehr möglich. Wenn das Ganze auf der untersten Stufe passiert, landet man mit einem unangenehmen Rums, der mehr peinlich ist als sonst was. Wenn es aber weiter oben passiert, kriegen sich die Füße einfach nicht wieder ein (weder elegant noch sonst wie), und man kann nur hoffen, dass man das Geländer zu packen bekommt, beziehungsweise dass es überhaupt ein Geländer gibt. Eine Untersuchung aus dem Jahre 1958 besagt, dass selbiges bei drei Vierteln aller Treppenstürze fehlte.Am Anfang und Ende einer Treppe heißt es besonders vorsichtig sein. Offenbar sind wir dort am ehesten abgelenkt. Ein Drittel aller Treppenunfälle passiert auf der ersten oder der letzten Stufe und zwei Drittel auf den ersten drei oder letzten drei Stufen. Am gefährlichsten ist es, wenn eine einzige Stufe an einer unerwarteten Stelle kommt, und fast so gefährlich wird es, wenn es nur fünf oder weniger Stufen gibt. Sie scheinen zur Vermessenheit zu verleiten.Hinunterzugehen ist im Übrigen gefährlicher als hinauf – was sich nach dem bisher Gesagten wahrscheinlich von selbst versteht. Über neunzig Prozent aller Verletzungen ziehen sich die Menschen beim Hinuntergehen zu. Die Chancen auf einen schweren Sturz betragen 57 Prozent auf einer geradläufigen Treppe, aber nur 37 Prozent auf einer wie auch immer gewendelten Treppe. Auch Treppenabsätze müssen eine bestimmte Größe haben – ideal ist die Formel: Breite einer Stufe plus Länge eines Schritts –, damit sie den Rhythmus des Treppenbenutzers nicht unterbrechen. Wenn der nämlich unterbrochen wird, ist das schon das Vorspiel zum Sturz.Man erkannte auch, dass Menschen eine Treppe unterschiedlich schnell hinauf- und hinuntergehen, je nachdem, ob der Aufstieg kurz oder lang ist. Da dies ganz instinktiv geschieht, ist es am besten, wenn man breite Stufen bei kurzen Aufstiegen und schmalere bei steileren, längeren Aufstiegen hat. Aber die Klassiker der Architekturliteratur hatten überraschend wenig zur Anlage von Treppen zu sagen. Vitruv meinte nur, dass Treppen gut beleuchtet sein sollten. Seine Sorge galt nicht der Risikominimierung für Stürze, er wollte vielmehr verhindern, dass die Leute im Dunkeln auf der Treppe zusammenstießen. Erst Ende des 17. Jahrhunderts ersann François Blondel, ein Franzose, eine Formel, die das Verhältnis zwischen Breite und Höhe der Stufe mathematisch erfasste. Grob vereinfacht schlug er vor, dass man für jede zusätzliche Treppenstufe die Breite derselben nach einem ganz bestimmten Verhältnis verringern sollte. Seine Formel wurde allenthalben angewendet und ist heute, mehr als dreihundert Jahre später, immer noch fester Bestandteil vieler Bauvorschriften, obwohl sie bei Treppen, die entweder ungewöhnlich hoch oder ungewöhnlich niedrig sind, nicht einmal besonders gut ist – nein, eigentlich richtig schlecht.In moderneren Zeiten hat – siehe da! – Frederick Law Olmsted die Konstruktion von Treppen sehr ernst genommen. Obwohl er es für seine Arbeit so gut wie gar nicht brauchte, vermaß er Stufenhöhen und -breiten neun Jahre lang penibelst – manchmal zwanghaft –, weil er eine Formel finden wollte, nach der eine Treppe in beiden Richtungen bequem und sicher zu begehen war. Seine Ergebnisse packte dann ein Mathematiker namens Ernest Irving Freeze in zwei Gleichungen.Heute schlägt Templer vor, dass der Höhenabstand zwischen zwei Stufen zwischen 16,002 und 18,288 Zentimeter betragen sollte und die Auftrittsbreite nie weniger als 22,86 Zentimeter, aber besser 27,94. Wenn man sich allerdings mal umschaut, stellt man fest, dass alle möglichen anderen Maße vorkommen. Im Allgemeinen, sagt jedenfalls die Encyclopaedia Britannica, ist der Abstand zwischen den Stufen in den Vereinigten Staaten ein wenig höher als der in Großbritannien und der auf dem europäischen Festland noch höher, doch genaue Zahlen werden nicht genannt.Zur Geschichte von Treppen kann man nicht viel sagen. Keiner weiß, wo oder wann sie entstanden, nicht einmal ungefähr. Aber die ersten Treppen wurden vielleicht nicht einmal konstruiert, weil die Menschen, wie man vielleicht denkt, nach oben in ein höheres Stockwerk wollten, sondern weil sie nach unten, in Minen, wollten. 2004 wurde die älteste bisher gefundene Holztreppe entdeckt, und zwar einhundert Meter unter der Erde in einem Bronzezeit-Salzbergwerk in Hallstatt in Tirol: Sie war ungefähr dreitausend Jahre alt. Im Gegensatz zur Leiter (bei der man beide Hände zum Festhalten braucht) hat die Treppe den klaren Vorteil, dass man beide Arme freihat und schwere Lasten nach oben schleppen kann.Tödliche TapetenDa wir bei dem Thema sind, wie wir in unseren Häusern zu Schaden kommen können, halten wir doch einen Moment auf dem Treppenabsatz inne und betrachten etwas anderes, das sich in der Menschheitsgeschichte für eine große Anzahl unserer Artgenossen als tödlich erwiesen hat: die Wände, oder genauer gesagt, das, was auf die Wände kommt: Farbe und Tapete. Lange, lange waren beide auf vielfältige Weise der Gesundheit entschieden abträglich.Da ist zunächst einmal die Tapete überhaupt (...). Lange war sie sehr teuer gewesen, nicht nur, weil sie länger als ein Jahrhundert hoch besteuert wurde, sondern auch, weil sie extrem arbeitsaufwändig in der Herstellung war. Sie wurde nicht aus Zellstoff, sondern aus Lumpen hergestellt. Die Lumpen zu sortieren, war buchstäblich Drecksarbeit; die Sortierer konnten sich mit vielen Krankheiten anstecken. Bis zur Erfindung einer Maschine im Jahr 1802, mit der man Endlospapierrollen produzieren konnte, war jedes Blatt höchstens sechzig mal sechzig Zentimeter groß, und die Tapetenstücke mussten sorgsam und mit großem Geschick aneinandergeklebt werden. Die Gräfin von Suffolk zahlte Mitte des 18. Jahrhunderts für das Tapezieren eines einzigen Zimmers 42 Pfund, und damals betrug die Jahresmiete eines guten Londoner Hauses gerade mal 12 Pfund. Velourstapete, hergestellt aus Papier und darauf geleimten, gefärbten Wollfusseln, wurde danach extrem modisch, bot aber zusätzliche Gefahren für alle am Herstellungsprozess Beteiligten, da der Leim oft giftig war.Als 1830 endlich die Tapetensteuer abgeschafft wurde, ging es mit der Tapete stetig bergan. Die Zahl der in Großbritannien verkauften Rollen sprang von einer Million 1830 auf dreißig Millionen 1870, und ab dann wurden die Leute wirklich reihenweise krank. Tapete war oft mit Pigmenten gefärbt, die Arsen, Blei und Antimon enthielten, doch nach 1775 wurde sie auch noch häufig in ein besonders tückisches Kupfersalz namens Kupferarsenit getaucht, das der großartige, aber wunderbar glücklose schwedische Chemiker Carl Wilhelm Scheele erfunden hatte. Die Farbe des Kupferarsenits war so beliebt, dass sie bald Scheeles Grün genannt wurde. Unter Zusatz von Kupferazetat wurde sie zu einem noch tieferen „Smaragdgrün“ verfeinert. Man färbte damit alles Mögliche, Spielkarten, Kerzen, Kleidung und Vorhangstoffe und sogar manche Nahrungsmittel. Besonders beliebt war Smaragdgrün aber bei Tapeten. Was nicht nur gefährlich für die Leute war, die die Tapete herstellten oder anklebten, sondern auch für die, die später damit wohnten.Ende des 19. Jahrhunderts enthielten achtzig Prozent der englischen Tapeten Arsen, oft in erheblichen Mengen. Besonders begeisterte sich William Morris dafür, der nicht nur leuchtendes Arsengrün liebte, sondern auch in der Unternehmensführung einer Firma in Devon tätig war (und sein Geld darin investierte), die auf Arsen basierende Pigmente herstellte. Besonders bei Feuchtigkeit – und in englischen Heimen ist es selten nicht feucht – verströmte die Tapete einen eigenartigen, muffigen Geruch, der viele Leute an Knoblauch erinnerte. Außerdem aber merkten sie, dass in Schlafzimmern mit grünen Tapeten normalerweise keine Wanzen waren. Giftige Tapete, meint man heute, war häufig auch der Grund, warum eine Luftveränderung chronisch Kranken so guttat. In vielen Fällen entkamen sie garantiert nur einer schleichenden Vergiftung. Wie auch Frederick Law Olmsted, ein Mann, dem wir häufiger begegnen als gedacht. 1893 litt er offenbar an einer Arsenvergiftung, die von seiner Schlafzimmertapete ausgelöst wurde, genau zu der Zeit, als die Leute allmählich kapierten, was sie im Bett krank machte. Er brauchte einen ganzen Sommer, um sich zu erholen – in einem anderen Zimmer.Auch Farben waren überraschend gefährlich. Bei ihrer Herstellung vermischte man eine Menge toxisches Zeugs miteinander, insbesondere Blei, Arsen und Cinnabarit (einen Verwandten des Quecksilbers). Malergesellen und Kunstmaler litten an einer schwer zu bestimmenden, aber vielfältig aggressiven Krankheit, die man Malerkolik nannte und die im Grunde eine Bleivergiftung war. Diese Leute kauften Bleiweiß im Block und zermahlten es zu Pulver, indem sie immer wieder eine Eisenkugel darüberrollten. Dadurch kam viel Staub an ihre Finger und in die Luft, und der war hochgiftig. Zu den vielen Symptomen, an denen sie erkrankten, gehörten Lähmungen, quälender Husten, Antriebslosigkeit, Melancholie, Appetitverlust, Halluzinationen und Blindheit. Eine der merkwürdigen Folgen einer Bleivergiftung ist die Vergrößerung der Netzhaut, weshalb manche Betroffene Heiligenscheine um Objekte sehen – welchselbigen Effekt Vincent van Gogh ja berühmterweise in seinen Gemälden nutzte. Auch James McNeill Whistler erkrankte ernsthaft durch Bleiweiß; als er das lebensgroße Bild Das weiße Mädchen schuf, benutzte er sehr viel davon.Heute ist Bleifarbe außer in sehr spezifischen Anwendungsfällen überall verboten, Restauratoren vermissen sie aber schmerzlich, denn sie verlieh den Farben eine Tiefe und Weichheit, wie sie mit modernen Farben bei Weitem nicht zu erzielen sind. Außerdem sieht sie besonders gut auf Holz aus. (...)Der einfachste Anstrich war der mit Kalkmilch oder Tünche, und man benutzte ihn normalerweise in schlichteren Bereichen wie Räumen, in denen die Dienstboten arbeiteten, sowie deren Zimmern. Tünche war eine einfache Mixtur aus ungelöschtem Kalk und Wasser (der besseren Haftbarkeit wegen manchmal noch mit Talg vermischt). Sie hielt nicht lange, hatte aber den praktischen Vorteil, dass sie desinfizierend wirkte. Sie war nicht immer weiß, sondern oft, wenn auch schwach, mit Farbstoffen versetzt.Die Herstellung der Farben erforderte besondere Kunstfertigkeiten, denn Maler mahlten ihre Pigmente und mischten ihre Farben selbst, und im Allgemeinen geschah das unter großer Geheimhaltung, um gegenüber der Konkurrenz die Nase vorn zu haben. Da man die Farben nur in kleinen Mengen mischen und sofort verwenden musste, bedurfte es schon großer Erfahrung und großen Könnens, jeden Tag zueinander passende Mengen anzurühren. Man musste ja auch immer mehrere Schichten auftragen, denn selbst die besten Farben hatten keine große Deckkraft. In der Regel brauchte man mindestens fünf Anstriche für eine Wand. Anstreichen war also ein aufwändiges und handwerklich ziemlich anspruchsvolles Unterfangen.Preisliche Unterschiede gab es vor allem bei den Pigmenten. Stumpfere Farben wie gebrochenes Weiß oder Steingrau waren für vier, fünf Pence das Pfund zu haben, aber da Blautöne und Gelbtöne zwei- bis dreimal so viel kosteten, wurden sie nur von bürgerlichen und höheren Schichten benutzt. Noch teurer waren Blautöne wie Smalte aus gemahlenem Glas, das den Glitzereffekt bringt, und Azurit aus Halbedelstein. Das Teuerste war Grünspan, den man erzeugte, indem man Kupferstreifen über ein Fass mit Pferdemist und Essig hängte und das dann entstehende oxidierte Kupfer abkratzte. Es ist der gleiche Prozess, der Kupferdome und -statuen grün werden lässt, nur schneller in Gang gesetzt und kommerziell genutzt, und es ergab „das zarteste Grasgrün der Welt“, wie ein Zeitgenosse aus dem 18. Jahrhundert schwärmte. Ein Grünspan-grün gestrichenes Zimmer entlockte Besuchern stets ein bewunderndes "Ah!".Wenn Farben in Mode kamen, wollten die Leute sie immer so intensiv, wie es nur irgend ging. Die dezenteren Farben, die wir aus der Georgianischen Zeit in Großbritannien und der Kolonialstilperiode in den Vereinigten Staaten kennen, sind Resultat von Verblassen, nicht von dekorativer Zurückhaltung. Als man 1979 in Mount Vernon, dem Landsitz Georg Washingtons, damit begann, die Innenräume in den Originalfarben zu streichen, "kamen die Leute und beschwerten sich lautstark", erzählte mir der Chefdenkmalschützer des Anwesens, Dennis Pogue. "Sie behaupteten, die knalligen Farben seien geschmacklos. Und sie hatten recht – schön waren sie nicht. Aber wir haben sie nur deshalb gewählt, weil sie ursprünglich so ausgesehen haben. Viele Leute konnten sich allerdings gar nicht damit anfreunden, dass wir Mount Vernon getreu dem Original restaurierten. Doch die Farben damals waren eben alle durchgängig sehr kräftig. Je vollere Farben man verwendete, desto mehr Bewunderung war einem gewiss. Schon deshalb, weil intensive Farben immer ein Zeichen dafür waren, dass man viel Geld ausgegeben hatte, denn die vielen Pigmente waren ja sehr kostspielig. Man darf freilich auch nicht vergessen, dass man die Farben oft nur bei Kerzenlicht sah; um in dem bisschen Licht was herzumachen, mussten sie schon kräftig sein."Ein Geschmack wie die HippiesIn Monticello, dem Landsitz Thomas Jeffersons, ist es heute genauso. Einige Zimmer erstrahlen in den lebhaftesten Gelb- und Grüntönen. Plötzlich kommt es einem vor, als hätten George Washington und Thomas Jefferson einen Geschmack wie die Hippies. Dabei waren sie im Vergleich zu dem, was folgte, noch über die Maßen zurückhaltend.Als in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die ersten gebrauchsfertigen Farben auf den Markt kamen, klatschten die Leute sie mit fröhlicher Hingabe an die Wände. Nicht nur wurden stark leuchtende Farben im Haus Mode, sondern sieben bis acht davon in einem einzigen Zimmer.Bei genauerer Betrachtung des Ganzen würden wir freilich überrascht feststellen, dass zwei sehr elementare Farben im 18. Jahrhundert überhaupt nicht existierten: ein gutes Weiß und ein gutes Schwarz. Das hellste verfügbare Weiß war ziemlich stumpf und gebrochen, und obwohl im 19. Jahrhundert die Weißtöne weißer wurden, bekam man erst in den 1940er Jahren – durch Hinzufügen von Titanoxid – richtig starke, haltbare weiße Farben.In dem jungen Neuengland fehlte sogar jegliches Weiß, weil die Puritaner nicht nur keine weiße Farbe hatten, sondern von Farben und überhaupt einem hübschen Anstrich gar nichts hielten (beides fanden sie protzig). All die schimmernden weißen Kirchen im Nordosten der USA sind also ein vergleichsweise neues Phänomen.Und wie gesagt, auf der Palette des Malers fehlte außerdem ein kräftiges Schwarz. Erst Ende des neunzehnten Jahrhunderts konnten sich auch Hinz und Kunz schwarze Farbe leisten, die aus Teer und Pech destilliert war und schwarz blieb. Womit klar ist, dass all die glänzend schwarzen Haustüren, Geländer, Tore, Laternenpfähle, Dachrinnen und Fallrohre und Beschläge, die im heutigen London allgegenwärtig sind, jüngeren Datums sind. Wenn wir in das London von Dickens zurückkatapultiert würden, würden wir als einen der verblüffendsten Unterschiede bemerken, dass es kaum schwarz angestrichene Flächen gab. In Dickens’ Zeiten waren fast alle Eisenkonstruktionen und schmiedeeisernen Verzierungen grün, hellblau oder stumpf grau.So, nun können wir nach oben in ein Zimmer gehen, das hoffentlich nie jemanden umgebracht, aber vermutlich mehr Leiden und Verzweiflung gesehen hat als alle anderen Zimmer des Hauses zusammen ...