Kultur : „Es verletzt, so behandelt zu werden“

Viele junge Palästinenser sind wütend, weil westliche Medien sie als Terroristen vor­ver­urteilen. Einige schreiben nun dagegen an

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Vom „Krieg gegen den Terror“, den der damalige US-Präsident George W. Bush gleich nach den Angriffen vom 11. September ausrief, wurde auch Gaza nicht verschont.

Als die Hamas die Kontrolle über den Gazastreifen übernahm, begannen tendenziöse Pressekanäle Gaza als eine Zone des Terrors darzustellen, in der kriminelle bewaffnete Gruppen agieren, die Israel von der Landkarte löschen wollen. Sie machten sich den 11. September zunutze und erfanden Geschichten über eine angebliche Kollaboration zwischen Hamas und al-Qaida. In der Sicht des Westens sind beide eine Gefahr für die Menschheit.

Unter Billigung der USA begann Ende 2008 der Krieg gegen die Hamas in Gaza. 22 Tage Aggression – vor allem gegen die Zivilbevölkerung – wurden als eine notwendige Operation zur Zerstörung der terroristischen Infrastruktur gerechtfertigt. Es starben Hunderte Mütter und Kinder. Gaza wurde zu einem Ort der mutterlosen Nächte der Kinder und der kinderlosen Tage der Mütter.

Wachsendes Bewusstsein

Mohammad Suleiman, ein 21-jähriger Blogger aus Gaza, hat über die Gründe nachgedacht: „Es gibt natürlich viele: Einige haben etwas damit zu tun, den Staat Israel zwar nicht vor allen Palästinensern, aber vor allen Arabern und Moslems zu schützen.“ Suleiman ist dennoch optimistisch: „Ich denke, es gibt in Europa, was diese Dinge angeht, mittlerweile ein wachsendes Bewusstsein.“

Die überraschende Wahrheit ist, dass zumindest die meisten der Menschen in Gaza, wenn nicht sogar alle, versuchen, Lösungen dafür zu finden, wie Palästinenser und Israelis in Frieden und Harmonie zusammen leben könnten. Während ein Teil von ihnen hofft, diesen Traum mittels einer Zweistaatenlösung erfüllen zu können, unterstützen andere die Ein-Staaten-Variante.

Ich, die Autorin dieser Zeilen, lebe seit meiner Geburt in Gaza. Und ich habe nicht ein einziges Mal jemanden getroffen, der „Israel von der Landkarte auslöschen“ wollte. Auch wenn eine Minderheit existiert, die dies anstrebt, muss man unbedingt hinzufügen, dass es natürlich auch in Israel solche Menschen gibt, die Palästina von der Landkarte tilgen wollen.

Eman Sourani, 22 Jahre alt und ein überzeugter „Einstaatler“, meint dazu: „Es geht nicht darum, andere Menschen loszuwerden, aber wir müssen gegen die Ungerechtigkeit kämpfen.“

Manipulation der Sprache

Vor ein paar Wochen wurden in Norwegen zahlreiche junge Menschen Opfer eines Attentats. Es gab über 70 Tote und etliche Verletzte. Die internationale Presse und die Social-Media-Netzwerke sprachen sofort von muslimischen Straftätern – wie gewohnt „Terroristen“ genannt. Ein paar Tage später wurde der Täter nur noch als ein „Extremist“ bezeichnet. Um einen Norweger zu beschreiben, bedarf es offensichtlich eines harmloseren Begriffs.

Dieses Ereignis und die Manipulation der Sprache brachten mir die Bilder der Angriffe vom 11. September wieder ins Gedächtnis. In Gaza begannen junge Blogger sich Fragen zu dem, was in Norwegen geschah, zu stellen.

Die 22-jährige Samah Saleh schrieb auf ihrer Facebook-Seite: „Wenn die Person, die mehr als 70 Leute in Norwegen getötet hat, ein Muslim wäre, hätte die Presse ihn als Terroristen bezeichnet. Im Moment ist er nur ein ,Angreifer‘ (Reuters), ,Bewaffneter‘ (BBC, CNN Al Jazeera).“ Es scheint manchmal, als würde es sich bei „Terrorist“ um eine für Moslems reservierte Bezeichnung handeln. Das US-Außenministerium spricht in Bezug auf Norwegen von einem „Gewaltakt“ und nicht von einem „Terrorakt“. Samah ist Muslimin, aber sie ist keine Terroristin. Sie studiert Medizin und ist eine von den vielen erfolgreichen jungen Muslimen in Gaza. In der Tat machen Tausende Studenten jedes Jahr in Gaza ihren Hochschulabschluss.

Extremisten und Terroristen gibt es in jeder Gemeinschaft, unabhängig davon, welche Sekten, Religionen oder Überzeugungen dort vorherrschen. Kriminelle repräsentieren aber nicht eine gesamte Gesellschaft oder eine Religion, sondern eher die Bedingungen, unter denen sie aufwuchsen und die sie radikalisiert haben. Es kommt mir vor, als würden viele ihren Blick mehr auf die Terroristen richten als auf unseren Alltag.

Für die Freiheit ihrer Heimat

Shaimaa al-Waheidi, 23, gerade Hochschulabsolvent aus Gaza, kommentierte die Angriffe vom 11. September wie folgt: „Die USA und alle anderen sollten verstehen, dass keine Religion schuld ist an den Verbrechen der Menschen. Mir, einem palästinensischen Bürger, tun die Familien der Opfer des 11. September leid. Diese Angriffe beleidigten uns und unsere Religion. Unsere Religion ist eine Religion des Friedens, und wir sind gegen diese Angriffe.“

Die 19-jährige Schriftstellerin Lara Abu-Ramadan aus Gaza pflichtet ihm bei: „Nach den Angriffen auf das World Trade Center wurden Muslime in Europa wie Terroristen behandelt. Bevor ich dieses Jahr nach Frankreich reiste, hatte ich Angst vor der Reaktion der Menschen auf meinen Hijab. Aber es kam besser als erwartet, trotz einiger verächtlicher Blicke, die ich erntete. Manchmal fühlte ich mich wegen dieser Blicke seltsam. Es verletzt einen, so behandelt zu werden.“

Aber haben diese Attacken das Leben der jungen Menschen in Gaza beeinflusst? Sahimaa und Mohammad äußern sich folgendermaßen dazu: „Ich denke, dass die Angriffe vom 11. September 2001 nicht wirklich mein Leben als Muslim beeinflusst haben, weil ich glaube, dass die US-Regierung schon vor den Angriffen eine festgefahrene Meinung über den Islam hatte“, sagt Sahimaa. Für Mohammad sind die Diskussionen nach der Katastrophe aber auch eine Chance: „Sie mögen mich persönlich beeinträchtigen, aber ich denke, ich kann dazu beitragen, diese Vorurteile und ungenauen Darstellungen zu bekämpfen.“

Für Menschen aus Gaza gehören der Streit um den Islam und jener um Palästina im Grunde zu demselben Phänomen. Für die Souveränität der muslimischen heiligen Stätten in Jerusalem zu kämpfen, ist für sie vom Kampf für die Freiheit ihrer Heimat nicht zu trennen. Es geht ihnen dabei auch um Identität.

Die arabische Jugend nimmt Dinge nicht mehr einfach so hin. Sie erhebt sich und rebelliert gegen Diktatur und Kolonialmächte, die so lange ihr Leben und das Leben ihrer Eltern kontrolliert haben. Der Staub, der über einen so langen Zeitraum die wahren Farben ihrer Religion und die ihres Kampfes bedeckt hat, wird nun langsam weggewischt.


Rana B. Baker, 20, studiert an der Islamischen Universität von Gaza Betriebswirt-schaft. Sie ist Mitglied des Organisationskomitees der Boykott-Kampagne in Gaza und bloggt auf: ranabaker.wordpress.com





Dieser Text ist Teil der Freitag-Sonderausgabe 9/11, die der Perspektive der arabisch-muslimischen Welt auf die Terroranschläge und ihre Folgen gewidmet ist. Durch einen Klick auf den Button gelangen Sie zum Editorial, das einen ausführlichen Einblick in das Projekt vermittelt. In den kommenden Tagen werden dort die weiteren Texte der Sonderausgabe verlinkt

Übersetzung: Manja Herrmann