Am Sonntag war Muttertag, und ich kenne viele Freundinnen, die auf verschiedene Art und Weise an diesem Tag zu knabbern haben. Und sie haben auch unterschiedliche Strategien entwickelt, damit umzugehen. Die eine ruft bei ihrer Mutter an und weiß, dass es Kritik hageln wird, warum sie nicht öfters anrufe und dass sie ihre Mutter missachte. Die andere ruft erst gar nicht an, weil der Muttertag für sie keine Relevanz mehr hat; die Mutter ist keine besonders wichtige Frau in ihrem Leben mehr, eher eine Frau von vielen anderen, die man alle halbe Jahre einmal kontaktiert. Die dritte hat keinen Kontakt mehr zu ihrer Mutter. Die vierte ist am Muttertag auf jeden Fall bei ihrer Mutter zu Besuch und feiert mit ihr das gute Verhältnis und quatscht in einem fort mit ihr über
Kultur : Die Mutter aller Sorgen
Am Muttertag fiel wieder auf: Mütter und Töchter – das kann eine ganz schwierige Kiste sein. Wobei das ein ziemlich geschlechterstereotypes Denkmuster ist. Oder?
Von
Katrin Rönicke
er das Leben.Schon 2008 brachte Claudia Haarmann mit Mütter sind auch Menschen. Was Mütter und Töchter voneinander wissen sollten (Orlanda,Neuauflage 2012) ein Werk heraus, das aufklären sollte, "was Töchter und Mütter voneinander wissen sollten". Jetzt erschien die erweiterte Neuauflage. Dabei untersucht Haarmann interessanterweise nur die Beziehung zwischen Müttern und Töchtern. Natürlich könnte ich das kritisieren. Wo sind die Väter? Was ist mit den Söhnen? Warum werden beide einfach ausgelassen? – Das kann doch nicht gut sein, das stabilisiert doch bloß alte Klischees. Diese Einwände mögen alle richtig sein.Doch das Buch trifft einen Nerv, es behandelt ein real existierendes Problem – und dieses Problem ist sehr eindeutig abgrenzbar von Themenfeldern wie "Mütter und Söhne", "Väter und Kinder" und "Elternkonflikte allgemein". Haarmann selbst schreibt eigentlich nur auf, was sie einerseits selbst als Tochter beschäftigte, was sie in ihrer Praxis erlebte und was sie erfuhr, als sie sich umhörte und Frauen nach ihrem Verhältnis zur Mutter befragte: Es gibt einfach "etwas", das diese Beziehung stärker prägt und in vielen Fällen belastet, als alle anderen Beziehungen in unserer Alltags- und Lebensrealität. Diesem "Etwas" geht Haarmann auf die Spur, und auch wenn sie das nicht expliziert: Damit begibt sie sich gleichzeitig auf die Spurensuche nach einem Geschlechterparadigma, das vielleicht eines der hartnäckigsten in unserer Kultur ist.Das "Etwas"Dabei dröselt sie zunächst feinsinnig die vielfältigen Erwartungen an Mütter auf und fokussiert damit bereits einen Quell dieses "Etwas". Eine Mutter sei bereit, "die Folgen jeder Fehlentwicklung auf sich zu nehmen". Was sehr pathetisch klingt, ist natürlich nicht ganz von der Hand zu weisen: Selbst wenn eine Mutter diese Verantwortung von sich weisen mag, ist sie doch bis heute für die Gesellschaft die Hauptverantwortliche für das Wohlergehen ihrer Kinder. Haarmann analysiert: "Unsere Rollendefinition von Mütterlichkeit rechtfertigt Erwartungen, die nie ein Ende finden."Das Neue aber ist (und das kommt bei Haarmann noch nicht vor), dass diese Verantwortung sich mittlerweile auch auf die Väter ausweitet. Von "Helikoptereltern" ist die Rede, von Eltern, die aufgrund dieser Verantwortung, die man ihnen zuschreibt und die sie – ganz wichtig! – auch annehmen, permanent wie Helikopter über den Aktivitäten ihrer Kinder kreisen. Es ist ein anderes Kapitel dieser Geschichte, dass daraus bereits eine sehr lukrative private Förderindustrie erwachsen ist. Auch steht auf einem anderen Blatt, dass der Hyperfokus der ökonomischen Verwertbarkeit von Menschen und ihren Kompetenzen vielleicht einer der zentralen Kulturmerkmale der westlichen Gesellschaften geworden ist, ein Universalismus nahezu, der sich in Bildungsstandards, weltweiten Vergleichstests und nicht zuletzt auf dem Ratgebermarkt zu Elternschaft, Bildungsförderung und Erziehung ausdrückt.Doch Menschen ohne Macken – wo bitte soll es die geben? Das Leben ist voller Brüche und Irrtümer. Psychotherapeuten sind heute eine der gefragtesten Berufsgruppen. Meistens sind sie auf Monate ausgebucht. Wir haben so viele Macken, dass wir ständig neue Syndrome und Störungsbilder (er)finden, die man therapeutisch, manchmal auch medikamentös, behandeln lassen kann. Wir gehen dermaßen in uns und unsere Geschichte, dass wir ausgehend von unseren aktuellen Problemen nicht anders können, als die Gründe zu suchen, die Verantwortlichen zu finden, die uns am stärksten prägten und formten. Kulturell bedingt sind das für heutige Erwachsene die Mütter. Und auch Studien zeigen, dass die Mutter den größten Einfluss auf die Mathematiknoten eines Kindes hat. Haarmann sagt dazu: "Damit sind wir in der folgenreichsten Dynamik […]: der Schuld."Die Mutter als FrauSie unternimmt eine recht spannende Reise zur Ursache und auch zur möglichen Auflösung dieses Konflikts. Sie verortet die Ursache in früheren Traumata, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, zum Beispiel Kriegserfahrungen. Und das ist eine Theorie, die sich langsam zu mausern beginnt. Sie sucht in der Neurobiologie nach Erklärungen für gelingende und misslingende Beziehungen, und schlussendlich stellt sie ihre Leserinnen vor eine sehr große Mutprobe: Sie thematisiert den echten und offenen Kontakt zu unseren Müttern. Indem wir nach der Geschichte unserer Mutter als Frau fragten, so legt Haarmann nahe, ermöglichten wir es uns und ihr, in mehr gegenseitigem Verstehen auch einen entkrampfteren Kontakt zu bekommen.Das Buch nimmt dabei die gesetzten Rollenerwartungen an Frauen – seien sie Mütter, Töchter oder beides – erst einmal als gegeben hin. Es ist wirklich nicht Haarmanns Ziel, diese zu sprengen. Wenngleich man diese Herangehensweise kritisieren könnte, bin ich nach langem Hadern zum Schluss gekommen, dass dies eine große Stärke dieser Analyse sein könnte: Sie holt die Menschen dort ab, wo sie stehen, und lässt sie so sein, wie sie nun einmal sind. Sie vermeidet damit, aufs Neue die Beziehung zweier Menschen mit einer übergroßen und schwierigen Aufgabe zu überladen. Schön aber, dass das Buch Haarmanns Sohn gewidmet ist.