OECD versteht deutsche Sozialeugenik nicht

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Die OECD kritisiert in ihrer neuen Studie die hohe Kinderarmut in Deutschland. Jedes 6. Kind sei arm, im OECD-Schnitt aber nur jedes 8. Kind. Dabei zahlt Deutschland überproportional viel Geld an Eltern aus. Dies sei falsch verteilt, so die OECD. Ich glaube, die OECD hat da was nicht verstanden.

Die Zahlen sind von 2003, also noch vor der deutschen sozialeugenischen Wende, die 2005 unter dem wohlklingenden Namen "Nachhaltige Familienpolitik" stattfand. Heute würden - so meine begründete Prognose - die Zahlen noch sehr viel extremer ausfallen. 2003 gab es noch das sozialkompensatorische Erziehungsgeld mit dem Ziel, Kinderarmut einzuschränken und die soziale Gerechtigkeit für Kinder zu erhöhen - also zwar ganz im Sinne der OECD, aber bei weitem nicht ausreichend, wie diese kritisiert. Mit der Demografisierung der Sozialpolitik, die Mitte dieses Jahrzehnts einsetzte, wurde aber genau das Gegenteil dessen, was die OECD einfordert, durchgeführt. Das sozialkompensatorische Erziehungsgeld wurde durch das sozialeugenische Elterngeld eingesetzt. Insgesamt zahlt der Staat nun sehr viel mehr Geld an Eltern, obwohl Deutschland hier schon Spitzenreiter war, und er kürzte gleichzeitig für die bedürftigen Kinder den ehemaligen Beitragssatz um die Hälfte. Thüringen setzt mit seinem Plan des "Kinderkredits" noch einen drauf: Eltern sollen einen Kredit erhalten, den sie "abkindern" können, also mit Kinderproduktion abbezahlen können. Alle Eltern sollen dies erhalten, insofern sie kreditwürdig sind. Also die Eltern mit wenig Geld erhalten diese staatliche Transferleistung nicht.

Die OECD empfiehlt Deutschland eine Politik, die auf Werten wie Soziale Gerechtigkeit beruht. Nicht unbedingt, weil Soziale Gerechtigkeit ein Wert an sich ist, sondern weil eine Vernachlässigung dieses Wertes sich kontraproduktiv auf das Wirtschaftswachstum auswirken kann. Daher auch die Kritik durch die OECD-PISA-Studien an dem sozial ungerechten Bildungssystem. Liebe OECD, Soziale Gerechtigkeit ist in Deutschland aber nicht gewollt von den Regierenden. Sie verstehen "Kinderarmut" nur in dem Sinne, dass die Deutschen arm an Kindern sind. Zumindest arm an Kindern in den Gesellschaftsschichten, die die "Bevölkerungsqualität" heben. Dafür erfinden sie dann auch mal gerne sowas wie eine "Kinderlosigkeit von Akademikerinnen". Liebe OECD, mach doch mal eine Analyse, warum und wie in Deutschland die Sozialeugenik wieder salonfähig wurde. Dies wird dann zwar von der Regierungspolitik genausowenig zur Kenntnis genommen wie die jetzige Studie, aber es könnte bei den Sozialverbänden und Gewerkschaften zu einer deutlich besseren Einschätzung der politischen Situation führen.

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Geschrieben von

Andreas Kemper

Ich arbeite als Soziologe kritisch zu Klassismus, Organisiertem Antifeminismus und die AfD

Andreas Kemper

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